In keinem anderen Rechtszweig ist die Zeugen- und Beteiligtenvernehmung so problematisch wie in der Finanzgerichtsbarkeit. Es stellt sich die berechtigte Frage, warum sich die Gerichte hiermit so schwertun.
In jüngster Zeit ist zunehmend eine Tendenz zu erkennen, dass sich die erstinstanzlichen Finanzgerichte (FG) nicht selten gegen eine Beweiserhebung durch Zeugen- oder Beteiligtenvernehmung entscheiden. So hat jüngst der Bundesfinanzhof (BFH) durch zwei Beschlüsse entschieden, dass die erstinstanzlichen FG die Beweiserhebung bewusst nicht vorgenommen hätten und stattdessen sich ausführlich mit der Art und Weise der vom Kläger, dem Steuerpflichtigen, gestellten Beweisanträge auseinandersetzten (BFH vom 22.03.2023 – X B 135/21 und vom 08.08.2023 – IX B 86/22).
Sachaufklärungspflicht
Nach § 76 Abs. 1 S. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO) hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es handelt sich um einen sogenannten Amtsermittlungsgrundsatz. Das bedeutet, dass die FG von sich aus alle entscheidungserheblichen Tatsachen festzustellen haben und gegebenenfalls Beweise erheben müssen, soweit diese Tatsachen nicht feststehen. Dabei ist der Sachverhalt unter Ausschöpfung aller verfügbaren Beweismittel bis an die Grenze des Zumutbaren so vollständig wie möglich aufzuklären (BFH-Beschluss vom 12.11.2003 – VII B 347/02, BFH/NV 2004, 511). Das FG ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten zwar nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 S. 5 FGO), darf aber auf die von einer oder einem Beteiligten beantragte Beweiserhebung nur in Ausnahmefällen verzichten. Daher stellt sich die berechtigte Frage, ob das FG überhaupt Beweise erheben muss und, wenn ja, in welcher Form. Nach der BFH-Rechtsprechung muss das Gericht alle angebotenen Beweise erheben, die entscheidungserheblich sind und die substantiiert vorgetragen worden sind, sofern nicht ein Grund vorliegt, der einen Verzicht auf das angebotene Beweismittel rechtfertigt (BFH-Beschluss vom 01.02.2007 – VI B 118/04, BFH/NV 2007, 1033). Aus dem Amtsermittlungsgrundsatz ergibt sich eine Sachaufklärungspflicht des FG, die je nach der Mitwirkungspflicht der Beteiligten reduziert werden kann (BFH-Beschluss vom 10.01.2007 – X B 113/06, BFH/NV 2007, 935). Diese Reduzierung hängt sehr stark von der Zuordnung der Tatsachen und Beweismittel der Beteiligten ab. Je mehr Tatsachen und Beweismittel der Sphäre (Feststellungs- und Beweislast) der Beteiligten zuzuordnen sind, desto mehr reduziert sich die Sachaufklärungspflicht des FG. Nicht selten wird in finanzgerichtlichen Schriftsätzen zur Vorbereitung der Erörterungstermine oder mündlicher Verhandlungen diese Sphäre der Beteiligten von den FG explizit genannt.
Beweisanträge
Wenn es um beweiserhebliche Tatsachen geht, muss zuerst der Tatsachenvortrag so konkret wie möglich erfolgen; dann ist zu beurteilen, ob dieser Vortrag entscheidungserheblich ist (BFH-Beschluss vom 01.02.2007 – VI B 118/04, BFH/NV 2007, 1033). Erst bei streitigen Tatsachen kommt eine Beweiserhebung in Betracht, wenn dadurch die entscheidungserheblichen Fragen geklärt werden können. Dies ist von der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts abzugrenzen, die allein dem FG obliegt. Wenn ein Beteiligter, der durch einen Berater vertreten ist, keine Beweisanträge stellt, verletzt das FG seine Sachaufklärungspflicht im Regelfall nur dann, wenn sich eine weitere Sachaufklärung auch ohne Antragstellung hätte aufdrängen müssen (BFH-Beschluss vom 06.06.2000 – VII R 72/99, BFHE 192, 390, 394; BFH-Beschluss vom 22.02.2006 – V B 30/05, BFH/NV 2006, 1168). Dies ist jedoch eher in Ausnahmesituationen der Fall, wenn es sich um atypische, ungewöhnliche Sachverhalte handelt. Auch in solchen Ausnahmesituationen ist stets zu raten, die behaupteten Tatsachen und ihre Erheblichkeit darzulegen und entsprechende, ordnungsgemäße Beweisangebote zu machen. Es ist für den Ausgang des Gerichtsverfahrens sehr riskant, sich von der Prämisse leiten zu lassen, das FG werde seinen Mitwirkungspflichten durch gerichtlichen Hinweis selbst und rechtzeitig nachkommen. Sind die Mitwirkungshandlungen des Steuerpflichtigen ausgeschöpft, ist nicht selten auch die Sachaufklärungspflicht des FG sehr stark eingeschränkt. In solchen Fällen ist daher dringend zu raten, Beweisanträge zu stellen, die ordnungsgemäß zu erfolgen haben.
Ablehnung der Anträge
Nicht ordnungsgemäß gestellt ist ein Beweisantrag insbesondere dann, wenn er unsubstantiiert ist. Substantiiert ist ein Antrag, aus dem sich sowohl das Beweisthema als auch das dazugehörende Beweismittel ergibt. Unsubstantiiert ist ein Beweisantrag, der so ungenau formuliert ist, dass nicht beurteilt werden kann, ob er entscheidungserheblich ist. Außerdem ist der Antrag unsubstantiiert, der das Beweisthema nicht genau bezeichnet (BFH-Beschluss vom 21.11.2002 – VII B 58/02, BFH/NV 2003, 485). Darüber hinaus ist der Antrag auch unsubstantiiert, der ins Blaue hinein auf eine Behauptung bezogen ist, die offenkundig ohne jede Grundlage erhoben worden ist (BFH-Beschluss vom 21.12.2001 – VIII B 132/00, BFH/NV 2002, 661). Zu unsubstantiierten Beweisanträgen gehören auch Ausforschungs- oder Beweismittelanträge (BFH-Beschluss vom 16.05.2013 – X B 131/12, BFH/NV 2013, 1260, Rz. 21 ff.). Darunter sind Anträge zu verstehen, die so unbestimmt sind, dass erst eine Beweiserhebung die entscheidungserheblichen Tatsachen und Behauptungen aufdecken könnte, zu denen dann in einem weiteren Schritt der eigentliche Beweis zu erheben wäre (BFH-Beschluss vom 22.08.2012 – X B 155/11, BFH/NV 2012, 2015, Rz. 37; BFH-Beschluss vom 29.01.2008 – V B 201/06, BFH/NV 2008, 827, unter II.2.b). Dies betrifft Tatsachenbehauptungen, die erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage erhoben worden sind. Im Ergebnis muss das FG unsubstantiierten Beweisanträgen nicht nachgehen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2003, 63).
Zeugenvernehmung
Wenn es zum Beispiel um einen Zeugenbeweis geht, ist in rechtlicher Hinsicht die Vorschrift des § 373 Zivilprozessordnung (ZPO) in Verbindung mit § 82 FGO maßgebend. Danach muss ein Zeugenbeweis durch die Benennung der Zeugen sowie die Bezeichnung der Tatsachen, über die der Zeuge vernommen werden soll, angetreten werden. Damit korrespondierend fordert § 377 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, dass die Zeugenladung den Gegenstand der Vernehmung enthalten muss. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Zusammenhang mit der Substantiierung eines Beweisantrags klargestellt, dass eine Beweisaufnahme unter diesem Gesichtspunkt nur abgelehnt werden darf, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache so ungenau bezeichnet ist, dass ihre Erheblichkeit nicht beurteilt werden kann, oder wenn sich der Beweisantrag als rechtsmissbräuchlich darstellt, weil die in ihm aufgestellte Behauptung ins Blaue hinein aufgestellt und damit aus der Luft gegriffen ist (BVerfG-Beschluss vom 14.04.2003 – 1 BvR 1998/02, NJW 2003, 2976, unter II.2.a). Ein Beweisantrag ist daher vom FG nicht zu beachten, wenn er einen unsubstantiierten Beweisantrag darstellt. Weiterhin darf ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag nach ständiger BFH-Rechtsprechung nur unberücksichtigt bleiben, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich, das Beweismittel unerreichbar beziehungsweise unzulässig oder absolut untauglich ist oder die infrage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann (BFH-Beschluss vom 22.03.2023 – X B 135/21, BFH/NV 2023, 731 Rz. 15, m. w. N.).
Beteiligtenvernehmung
Auch dem Beteiligten ist Gelegenheit zu geben, seine eigenen Behauptungen zu bestätigen und gegebenenfalls zu beeiden (BFH-Beschluss vom 17.08.2012 – III B 38/12, Rz. 16). Die Beteiligtenvernehmung ist oft das letzte Hilfsmittel zur Aufklärung des Sachverhalts. Sie kann aber unterbleiben, wenn sich das Gericht mithilfe anderer Beweismittel eine Überzeugung bilden kann oder wenn keine Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit des Vorbringens spricht (BFH-Beschluss vom 19.07.2010 – X B 21/10, Rz. 7). Die Beteiligtenvernehmung unterbleibt aber nicht, wenn das FG eine förmliche Beteiligtenvernehmung mit der Begründung ablehnt, dem Vorbringen des Klägers könne aufgrund von Steuerverfehlungen in der Vergangenheit kein Glauben geschenkt werden, da deshalb seine Glaubwürdigkeit zu bezweifeln sei. Dies wäre eine unzulässige, vorweggenommene Beweiswürdigung (BFH-Beschluss vom 08.08.2023 – IX B 86/22 Rz. 11, BFH/NV 2023, 1218). Eine vorweggenommene Beweiswürdigung ist ein Verfahrensmangel, der zur Zulassung der Revision führt. Er verletzt die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Der Verfahrensmangel kann sich darin äußern, dass ein angebotener Beweis nicht erhoben wird (BFH-Urteil vom 29.11.2006 – VI R 70/05, -nv-). Die Prüfung, ob diese Voraussetzungen der Beteiligtenvernehmung vorliegen, ist grundsätzlich Sache des FG als Tatsacheninstanz. Ob das FG einen Beteiligten vernimmt, steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Der BFH kann als Revisionsgericht nur prüfen, ob das FG sein Ermessen unsachgemäß ausgeübt oder die ihm eingeräumten Grenzen des Ermessens überschritten hat oder dieses Ermessen, falls eine Beteiligtenvernehmung in Betracht kam, überhaupt nicht hat walten lassen (BFH-Beschluss vom 19.05.2008 – IV B 88/07, BFH/NV 2008, 1685, unter 1.b).
Das Recht der Rüge
Wenn Beweis erhoben werden soll, ist im Finanzgerichtsverfahren stets darauf zu achten, dass der Kläger nicht sein Rügerecht verliert. Die verzichtbaren Verfahrensmängel, zu denen auch die Beweiserhebung gehört, müssen spätestens in der mündlichen Verhandlung gerügt werden (§ 155 FGO i. V. m. § 295 ZPO). Deswegen muss der steuerpflichtige Kläger oder sein Prozessbevollmächtigter in der mündlichen Verhandlung rügen, welche Sachverhaltsaufklärung und welche Beweisanträge übergangen worden sind. Es sollte auch vorgetragen werden, zu welchem Ergebnis der nicht erhobene Beweis geführt hätte (BFH-Urteil vom 30.04.2002 – X B 132/00, BFH/NV 2002, 1457). Eine derartige Rüge ist auch deswegen wichtig, weil der BFH an alle Tatsachen gebunden ist, die das FG festgestellt hat. Denn der BFH ist eine reine Revisionsinstanz, der lediglich über Rechtsfragen entscheidet. Demgegenüber sind die FG Tatsachen- und Rechtsinstanzen, die über Tatsachen und Rechtsfragen entscheiden. Deswegen sind Tatsachen, die erstmals im Revisionsverfahren vorgetragen werden, beim BFH nicht mehr zu berücksichtigen. Es ist daher zu raten, dass schriftlich gestellte Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung erneut vorgetragen werden und ihre Erheblichkeit zur Sprache kommt. In diesem Fall ist die Rüge beim FG schriftlich zu erheben. Sie ist unbedingt ins Verhandlungsprotokoll aufzunehmen. Und Beweisanträge sind gerichtlich zu protokollieren. Wenn das Protokoll unvollständig oder fehlerhaft ist, muss eine gerichtliche Protokollberichtigung beantragt werden. Wenn diese scheitern sollte, ist die Einholung dienstlicher Äußerungen der mitwirkenden Richter beim betroffenen FG durch den BFH anzuregen.
Fazit
Sofern eine gerichtliche Beweisaufnahme nicht durchgeführt
wird, weil nach Auffassung des FG unsubstantiierte Beweisanträge gestellt wurden, verletzt das FG dadurch seine Sachaufklärungspflichten nach § 76 Abs. 1 FGO. Dies stellt einen Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar. Dieser Verfahrensmangel ist mit einer Nichtzulassungsbeschwerde zu rügen, sollte eine Revision beim BFH aus anderen Gründen vom FG nicht zugelassen werden. Die durch Schriftsätze vorgebrachten Beweisanträge sind in der mündlichen Verhandlung zu erneuern. Eine unterlassene Beweisaufnahme ist ausdrücklich in der mündlichen Verhandlung zu rügen.