Digitale Verhandlungen - 24. März 2022

Anforderungen und Möglichkeiten

Die Digitalisierung des Justizwesens wird seit Langem auf nationaler und europäischer Ebene vorangetrieben. Ungeachtet offener Fragen zu den verfolgten Zielen, darauf angepasster Technik sowie einer Technikfolgenabschätzung besteht Innovationsdruck, dem sich Politik und Anwender nicht entziehen.

Insoweit unterscheidet sich die Rechtspflege nicht von ande­ren gesellschaftlichen Feldern. Unbestreitbar hat die Corona- Pandemie vor Augen geführt, dass Alternativen zur persönli­chen Kommunikation und zu Gerichtsverhandlungen vor Ort notwendig sind. In Schulen, Universitäten, auf dem Arbeits­markt und im Justizwesen werden seitdem die zuvor stiefmüt­terlich behandelten Techniken zur Ausführung von Videokonfe­renzen eingerichtet. Immer wieder treten dabei Konfliktlinien zwischen der Ausreizung technischer Möglichkeiten, den An­forderungen der Anwenderinnen und Anwender und den recht­lichen Rahmenbedingungen auf. Prozessrechtliche Fragen, technische Möglichkeiten und Datensicherheit sowie Daten­schutz werden erkennbar nicht zusammengedacht.

Prozessrecht

Das Verfahrensprozessrecht hat sich dabei als stilbildend und in der Praxis als robust und belastbar erwiesen. Bereits 2001 wur­de der § 128a Zivilprozessordnung (ZPO) eingeführt. Mit einer Gesetzesänderung im Jahr 2013 sollte die Vorschrift breitere An­wendung finden, indem auf das Einverständnis der Parteien ver­zichtet wurde. Nach § 128a ZPO kann das Gericht den Parteien, ihren Bevollmächtigten und Beiständen auf Antrag oder von Amts wegen gestatten, sich während einer mündlichen Verhand­lung an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrens­handlungen vorzunehmen. Die Verhandlung wird dann zeit­gleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen. Gleiches gilt für die Befragung von Zeugen, Sach­verständigen oder die Vernehmung einer Partei. Dem § 128a ZPO entsprechende Regelungen finden sich im Wesentlichen gleichlautend in allen Verfahrensordnungen wieder. Ein An­spruch auf eine Verhandlung im Wege einer Videokonferenz be­steht indes nicht. 2020 wurde etwa aus Grün­den des Gesundheitsschutzes mit § 114 Ar­beitsgerichtsgesetz (ArbGG) und in der Sozi­algerichtsbarkeit eine Reduzierung des richterlichen Ermessens normiert. Dies sollte die Verhandlung in Distanz erleichtern und ehrenamtlichen Richtern die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen trotz der Infektions­gefahr ermöglichen. Danach sollte das Ge­richt den Parteien dies im Falle einer epide­mischen Notlage im Sinne von § 5 Infekti­onsschutzgesetz (IfSG) gestatten. Eine Er­messensreduzierung auf null lag damit nicht vor. Das Gesetz war zudem beschränkt auf den Zeitraum Juli bis Dezember 2020. Eine entsprechende Regelung hielt der Gesetzgeber für die ZPO nicht für erforderlich. Schon aus diesen Gründen muss ein allge­meiner Anspruch auf eine Verhandlung im Wege der Bild- und Tonübertragung verneint werden.

Öffentlichkeit und Mündlichkeit

Ein wesentlicher Grundsatz des modernen Prozessrechts ist die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens. Eine Distanz­verhandlung muss im Gegensatz zur mündlichen Verhandlung die Beteiligung der Öffentlichkeit gewährleisten. Dies kann nur durch Öffnung der Übertragung von Bild und Ton, durch das An­gebot einer Aufzeichnung des Verfahrens oder schließlich durch Öffnung des Sitzungssaals erfolgen. Eine technische Beteiligung der Öffentlichkeit in sitzungsgleichen Videokonferenzräumen für alle ist, soweit ersichtlich, bisher von niemandem ins Spiel gebracht worden. Teilweise wird aus Platzgründen bei besonde­rem Interesse an größeren Verfahren die Verhandlung in einen anderen Sitzungssaal des Gerichts gestreamt. Eine virtuelle Be­teiligung der Öffentlichkeit an der Videokonferenz selbst dürfte vermutlich nicht nur aus technischen Gründen, etwa an der Übertragungsbandbreite, scheitern, sondern auch an dem Man­gel eines adäquaten Saaldienstes im digitalen Raum. Bekannt wurden etwa massive Störungen von Videokonferenzen als Zoom-Bombings, benannt nach den Angriffen auf die damals ungesicherten Videokonferenzen des zu Beginn der Pandemie erfolgreichen Start-ups Zoom. Nicht nur als vermeintliche Spaß­attacken sind derlei Angriffe vorstellbar. Bei einem ungehinder­ten Zugang zu öffentlich digital verhandelten Gerichtsverhand­lungen droht die massive Störung in jeder Art von Prozessen, in denen ein Übergewicht an personellem oder wirtschaftlichem Aktivierungspotenzial zu erwarten ist, von Querdenkern bis zu organisierter Kriminalität. Möglich wäre die Nutzung separierter Teamräume, die von einigen Anbietern ermöglicht wird. Diese Rückzugsräume können etwa auch Kollegialgerichten zur not­wendigen Beratung dienen. Für die Öffentlichkeit wäre dies jedoch kein gangbarer Weg, da im Fall der Störung des Verfah­rens durch die Öffentlichkeit dieser öffentliche Raum vollständig geschlossen werden müsste und dies einem Ausschluss der Öf­fentlichkeit gleichkäme. Denkbar wäre die Beteiligung der Öffentlichkeit über eine Auf­zeichnung der Verhandlung, sodass eine Kontrolle der Organe der Rechtspflege zeit­lich unabhängig ermöglicht werden würde. § 128a Abs. 3 ZPO normiert hingegen, dass die Übertragung nicht aufgezeichnet wird. Ausdrücklich untersagt wird dies allerdings nicht. Die Anwendungsprogramme, insbe­sondere die Cloud-basierte Software as a Service (SaaS), halten die Aufzeichnung häu­fig als Funktion vor. Auch über parallel lau­fende Software wäre die Speicherung der Übertragung möglich. Dadurch drängen sich Konflikte mit dem Verbot von Bild- und Tonaufnahmen aus § 169 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) auf. Dieses Verbot wird in der Regel mit der Funktionalität der Verhandlung gerechtfertigt, die gestört wäre, wenn das Ge­richt sich zusätzlich auf die Aufzeichnung der Verhandlung kon­zentrieren müsste. Gelöst wird die Beteiligung der Öffentlichkeit daher nach wie vor mit der On-Premises-Lösung: der Möglich­keit einer Teilnahme an der Verhandlung im Sitzungssaal. Nach­dem die Verhandlung vom Sitzungssaal ausgehen muss (§ 128a Abs. 1 S. 2 ZPO), steht dem nichts im Weg – außer die Technik.

Technik

Grundsätzlich sind die technischen Übertragungsmöglichkeiten von Ton und Bild aus dem Sitzungssaal in On-Premises- (eigen­ständige Technik und Software im Haus) und Cloud-Services (SaaS) zu sortieren, wobei belastbare Zahlen über die genaue Nutzung nicht vorliegen. Die Gerichte halten häufig mehrere Möglichkeiten vor. Es gibt fest eingerichtete technische Lösun­gen mit größeren Monitoren und Videotechnik, die mit Software aus den Gerichten heraus betrieben werden. Daneben haben sich in den letzten Jahren die Anbieter von Cloud-Services wie Microsoft Teams, Cisco Webex und Zoom etabliert, die auf den Servern der Anbieter laufen. Während die On-Premises-Lösun­gen in den Gerichten gebucht und dann gegebenenfalls in den jeweiligen Sitzungssaal verbracht werden müssen und damit nur begrenzt verfügbar sind, können die Cloud-Lösungen unab­hängig von bereits belegten Terminen im Prinzip jederzeit auf jedem Laptop ohne großen Aufwand betrieben werden. Viele der bekannten Anbieter von SaaS-Lösungen bieten eine Auf­zeichnung als Service an. Das soll nicht nur den Anwendungs­spielraum erweitern, etwa für Nachkontrollen, Proctoring in Prüfungssituationen oder ein Monitoring sowie Verhaltensana­lysen der Mitarbeiter. Die umfassende Sammlung der Nutzerda­ten während der Ton- und Bildübertragung dient nach den Her­stellerangaben auch der Suche nach Software-Fehlern, der Ent­wicklung von Software und dem User-Experience-Design. Be­kannt ist die Übertragung von Telemetriedaten, aus denen wiederum die Anwenderdaten isoliert werden können, etwa bei Microsoft Windows 11 und Teams. Die administrative Möglich­keit der Einschränkung dieser Analysefunktionen sowie der Übertragung von Telemetriedaten steigt mit dem Umfang der Lizenzen und folglich mit den laufenden Kosten der Software. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik rät dringend zur Deaktivierung der Übertragung von Telemetrieda­ten. Zwischen diesen beiden Extremen On-Premises und SaaS findet sich eine Reihe alternativer Anwendungen, von der einfa­chen Open-Source-Software bis zu behördlich für die Verwal­tung eingerichteten Plattformen. So hat das bayerische Kultus­ministerium für Schulen die Videokonferenzlösung Visavid ins Leben gerufen. Ebenfalls in Bayern existiert ein Portal, das über die Anwendung im Justizwesen hinaus von weiteren Staatsmi­nisterien genutzt werden kann. Andererseits werden von klei­nen Anbietern günstige, einfache und schlanke Software-Lö­sungen für Videokonferenzen auf der Basis etwa von Jitsi oder BigBlueButton angeboten, die dem Stand der Sicherheitstech­nik entsprechen und durch radikale Datenminimierung auch den Anforderungen des Datenschutzes. Die unterschiedliche Technik hat daher erhebliche Auswirkungen auf das Schutzni­veau. Denn allen digitalen Varianten der Bild- und Tonübertra­gungen gemeinsam ist die notwendige Konformität mit den Vorschriften zur Datensicherheit und zum Datenschutz.

Datensicherheit

Die Gewährleistung der Datensicherheit bei Nutzung von Soft­ware-Komponenten versteht sich von selbst. Die Software könn­te als Einfallstor für die Infiltration der Gerichts- und Anwalts-Software dienen oder durch Datendiebstahl an verwertbare In­formationen kommen. Auch die Übernahme oder Störung der Verhandlung durch Manipulation der Software und dadurch eine Störung des Justizwesens wären denkbar. Nicht fernlie­gend sind überdies Erwägungen, mittels neuer Techniken wie Deepface Manipulationen der Beteiligten während der Ver­handlung vorzunehmen. Längst wird zudem versucht, auch im Justizwesen prädiktive Analysen zu betreiben und ein nieder­schwelliges Angebot für gerichtliche Entscheidungen durch künstliche Intelligenz zu entwickeln. Hierfür werden zunächst große Mengen an Daten benötigt, um Modelle zu entwickeln. Die großen Datenökonomien sehen nicht nur im Erziehungs- und Gesundheitswesen Potenzial für den Einsatz maschineller Entscheidungsfindung und prädiktiver Maßnahmen, sondern auch im Justizwesen. Der Einsatz der Videokonferenz-Software nimmt an dieser Stelle eine Schlüsselstelle ein, da mittels Spracherkennungs-Software und Gesichtserkennung die um­fassendsten Analysen realisierbar sind, wie sie im Predictive Po­licing bereits zur Anwendung kommen. In Microsoft Teams fin­det sich eine Software-Entwicklung, die darüber hinaus unter anderem Termin- und Kontaktplanung, Dateiablage und Kurz­nachrichten integriert. Damit befindet sich Microsoft längst auf dem Weg, den Facebook mit der Umfirmierung in Meta an­strebt: einer umfassenden Verschmelzung der Software mit dem analogen Alltag. Angekündigt hatte Microsoft diese Ziel­richtung im Frühjahr 2021 unter dem Label Mesh. Das Schutz­niveau für die Datensicherheit ist indessen erheblich. Im Falle des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA) hatte der Bundesgerichtshof (BGH) noch entschieden, dass nur eine Sicherheit im Rechtssinne für die anwaltliche Kommunikation mit den Gerichten erforderlich sei, nicht eine Sicherheit, die dem Stand der Technik entspricht (Ende-zu-Ende-Verschlüsse­lung). Ob dies auch für die Software von öffentlichen Behörden Bestand hätte, die solche umfassenden Datenverarbeitungen vorhalten, erscheint fraglich.

Fazit und Ausblick

Für die Zulässigkeit von Gerichtsverhandlungen in Distanz kommt es erheblich auf die Art des verwendeten Konferenzsys­tems an. Aufgrund der großen Unwägbarkeit, welche Datenver­arbeitungen durch die SaaS-Systeme bei den Auftragsverarbei­tern selbst vorgenommen werden, erscheinen diese als höchst problematisch. Hauseigene Anlagen dürften im Hinblick auf Da­tensicherheit und Datenschutz geeignet sein, solange dort nicht im Hintergrund wieder auf Software zurückgegriffen wird, die Nutzerdaten oder Daten zur Telemetrie außer Haus verarbeitet. Noch kaum im Fokus stehen dagegen Open-Source-Lösungen kleinerer Anbieter, die durch Datenminimierung ein hohes Da­tenschutzniveau bieten, flexibel auf dem Laptop zu handhaben und in der Regel vergleichsweise kostengünstig sind.

MEHR DAZU

Lesen Sie hierzu auch das Titelthema „Digitalisierung in Recht und Justiz“ im DATEV magazin 03/2022.

DATEV-Consulting „Datenschutz-Beratungen“, www.datev.de/datenschutz-beratungen

Präsenzseminar „Der zertifizierte Datenschutzbeauftragte in der Kanzlei (TÜV)

Zum Autor

OR
Oliver Rosbach

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Wohnungseigentums- und Mietrecht in Nürnberg

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