Scheinselbstständigkeit - 24. Oktober 2024

Honorarkräfte vor dem Aus?

Nicht selten werden Schullehrer vertraglich als Selbstständige beschäftigt. Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts steht der Status nun zumindest infrage.

Mit dem sogenannten Herrenberg-Urteil vom 28. Juni 2022 (B 12 R 3/20 R) hat das Bundessozialgericht (BSG) grundlegende Kriterien definiert, die für die Abgrenzung zwischen selbstständiger Tätigkeit und abhängiger Beschäftigung bei als Honorarkräfte beschäftigten Lehrerinnen und Lehrern an Musik- und Volkshochschulen maßgeblich sein sollen. Dabei zeichnet sich nun eine Tendenz dahin gehend ab, dass regelmäßig von einer abhängigen Beschäftigung auszugehen sein dürfte. Eine solche Bewertung hat weitreichende Konsequenzen für die Praxis. So werden nach wie vor viele Lehrkräfte an Musik- und Volkshochschulen auf Basis von freien, selbstständigen Honorarverträgen beschäftigt, mit der Folge, dass für sie als Selbstständige weder Sozialabgaben noch Lohnsteuer abgeführt werden. Deren Status steht nun infrage. Damit einhergehend rückt das Risiko einer Scheinselbstständigkeit in den Fokus. Mit Blick auf das neue Semester stellt sich deshalb die Frage, ob die häufig befristeten freien Honorarverträge auch für dieses wieder befristet abgeschlossen werden können oder ob diese Art der Beauftragung womöglich vor dem Aus steht und die betreffenden Lehrkräfte stattdessen fest angestellt werden müssen.

Statusmeldung ist wichtig

Die konkrete Einordnung, ob eine selbstständige Tätigkeit oder eine unselbstständige Beschäftigung vorliegt, ist für die Vertragsparteien von großer Bedeutung, weil sie nicht nur rechtliche, sondern auch finanzielle Folgen hat. Entscheidend sind hier Steuern und Abgaben. Der Auftraggeber muss für eine Person, die er als Selbstständige beauftragt, keine Lohnsteuer und Sozialabgaben abführen. Der Auftragnehmer muss sich in diesem Fall selbst um eine ausreichende freiwillige Eigenvorsorge kümmern, da der Schutz über die gesetzliche Sozialversicherung entfällt. Deshalb haben beide Seiten nicht selten ein vorrangiges eigenes finanzielles Interesse an dieser Konstellation. Durch die eingesparten Kosten auf der Seite des Auftraggebers steigt gleichzeitig dessen Motivation, höhere Honorarsätze zu vereinbaren. Für den Selbstständigen fällt im Ergebnis das Nettoeinkommen regelmäßig höher aus als bei einer festen Anstellung auf Grundlage eines Arbeitsverhältnisses. Auch aus arbeitsrechtlicher Sicht hat der konkrete Status erhebliche Relevanz. Zwar sind der arbeitsrechtliche Arbeitnehmerbegriff und der sozialversicherungsrechtliche Beschäftigtenbegriff nicht deckungsgleich, aber dennoch häufig gleichzeitig gegeben. Daher unterliegen abhängig Beschäftigte oftmals einer Vielzahl arbeitsschutzrechtlicher Vorschriften, die für Selbstständige nicht gelten. Der fehlende Kündigungsschutz und das Fehlen von Ansprüchen auf bezahlten Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Von wesentlicher Bedeutung ist das arbeitsrechtliche Befristungsrecht. Während eine Befristung von Arbeitsverhältnissen grundsätzlich eines Sachgrundes bedarf, kann das freie Dienstverhältnis von Selbstständigen beliebig oft, auch ohne einen Sachgrund, befristet werden, was ein hohes Maß an Flexibilität schafft. Von dieser Möglichkeit wird gerade bei als Honorarkräfte beschäftigten Lehrkräften regelmäßig Gebrauch gemacht.

Das Risiko der Scheinselbstständigkeit

In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass von beiden Seiten ausdrücklich eine selbstständige Tätigkeit gewünscht ist. Für die betreffenden Auftragnehmer besteht die Motivation regelmäßig darin, als Selbstständiger ein vergleichsweise höheres Nettoentgelt zu erhalten, während für Auftraggeber insbesondere die größere Flexibilität freier Beschäftigtenverhältnisse attraktiv ist. Allerdings ist die Vereinbarung einer selbstständigen Tätigkeit nicht möglich, wenn sich aus den tatsächlichen Umständen etwas anderes ergibt. Der Status selbstständig oder unselbstständig kann nicht frei gewählt werden. Ist eine Person formal als Selbstständige angestellt, obwohl sie tatsächlich abhängig beschäftigt wird, liegt eine sogenannte Scheinselbstständigkeit vor – mit weitreichenden Konsequenzen:

  • volle Haftung des vermeintlichen Auftraggebers für die rückwirkende Nachzahlung der Lohnsteuer (bis zu vier Jahre, bei Vorsatz 30 Jahre),
  • volle Haftung des vermeintlichen Auftraggebers für die rückwirkende Nachzahlung der Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile) zuzüglich Säumniszuschläge (bis zu vier Jahre, bei Vorsatz 30 Jahre),
  • bei Vorsatz: Bußgelder und strafrechtliche Ermittlungen wegen Sozialversicherungsbetrug,
  • volle Arbeitnehmerrechte für den vermeintlichen Auftragnehmer (bezahlter Urlaubsanspruch, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Kündigungsschutz usw.).

Angesichts dieser Gefahren ist es für Auftraggeber besonders wichtig, Vorsicht walten zu lassen. Die Scheinselbstständigkeit ist und bleibt riskant.

Das Herrenberg-Urteil im Überblick

In dem Urteil vom 28. Juni 2022 setzte sich das BSG mit der Frage auseinander, welchen konkreten Status eine als Honorarkraft beschäftigte Lehrerin an der Musikschule Herrenberg hat. Ausgangspunkt war ein Bescheid der Deutschen Rentenversicherung, in dem festgestellt wurde, dass die betreffende Lehrerin abhängig beschäftigt ist und damit der Sozialversicherungspflicht unterliegt. Die Stadt Herrenberg hat als Trägerin der Musikschule gegen diesen Bescheid geklagt. Sie ist der Auffassung, es handele sich um eine selbstständige Beschäftigung. Der Rechtsstreit ging bis zum BSG, das letztendlich die Rechtsauffassung der Deutschen Rentenversicherung bestätigte. Demnach qualifiziert das BSG das Beschäftigungsverhältnis der Lehrerin als ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis. Das Gericht stellt in seiner Entscheidung einmal mehr klar, dass die Parteien über den sozialrechtlichen Status nicht frei entscheiden können. Die Einordnung ist eine rechtliche, wobei maßgeblich ist, wie das konkrete Vertragsverhältnis tatsächlich gelebt wird. Wird es wie ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis gelebt, ist eine entgegenstehende, bloß formale Vereinbarung, ein selbstständiges Beschäftigungsverhältnis abschließen zu wollen, irrelevant. In diesem Zusammenhang hat das BSG auch klargestellt, dass die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz (GG) keine andere Bewertung rechtfertigt, sondern sich die Statusbeurteilung auch in diesem Bereich nach den von der Rechtsprechung entwickelten Merkmalen vollzieht. Für eine abhängige Beschäftigung von Lehrkräften sprechen dabei vor allem folgende Merkmale:

  • Pflicht zur Erbringung einer persönlichen Arbeitsleistung,
  • Festlegung auf bestimmte Unterrichtszeiten,
  • Zuweisung von Unterrichtsräumen des Auftraggebers,
  • Zuweisung von Stundenplänen und/oder Lehrplänen,
  • Zuweisung von Schülern/Kursen/Klassen,
  • Pflicht zur Meldung von Unterrichtsausfall aufgrund von Erkrankung oder anderen Gründen,
  • Teilnahmepflicht an Gesamtlehrer- und Fachbereichskonferenzen,
  • Einbindung in die schulische Gesamtorganisation, indem Instrumente sowie Unterrichtsmaterialien bereitgestellt und gepflegt werden und wenn auch die Aufteilung, Reinigung und gegebenenfalls die Anmietung von Räumen durch die Schule erfolgt,
  • kein eigenes Unternehmerrisiko, weil die (vertraglichen) Beziehungen zu den Schülern ausschließlich durch die Schule unterhalten werden, die den Lehrern die Schüler zuteilt.

Gilt das Urteil auch für Altfälle?

Aktuell liegt dem BSG eine weitere Revision zur Entscheidung vor. Gegenständlich geht es um einen Lehrer, der an einer Volkshochschule von 2017 bis 2021 für Wirtschaft und Politik eingesetzt wurde. Zentrale Frage ist dabei erneut, ob dieser abhängig beschäftigt und damit sozialversicherungspflichtig war oder von einer rechtlich selbstständigen Tätigkeit ausgegangen werden muss. Für die sozialrechtliche Statusbeurteilung von Lehrkräften könnten nun auch auf diesen Fall die Maßstäbe des aktuellen Herrenberg-Urteils herangezogen werden. Hiernach wäre der betreffende Lehrer abhängig beschäftigt gewesen. Allerdings betrifft der Rechtsstreit ausschließlich zurückliegende Zeiträume vor Erlass des aktuellen BSG-Urteils vom 28. Juni 2022. Das in zweiter Instanz zuständige Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen argumentiert in seinem Urteil vom 20. Dezember 2022 (L 2 BA 47/20), die Schutzwürdigkeit des Vertrauens in die bisherige langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung zur Statusbeurteilung bei Lehrkräften rechtfertige es, die im Herrenberg-Urteil zur Statusbeurteilung von Lehrkräften entwickelten Kriterien nur auf Vertragsverhältnisse anzuwenden, die nach der Urteilsverkündung abgeschlossen wurden, nicht jedoch für Vertragsverhältnisse aus zurückliegenden Zeiträumen. Es hat zugleich die Revision zum BSG zugelassen. Das BSG hat über die Revision und damit über die Frage eines Vertrauensschutzes für Altfälle noch nicht entschieden. Im Ergebnis dürfte ein Vertrauensschutz jedoch zu verneinen sein. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass ein solcher Vertrauensschutz auf eine bisherige Rechtsprechung stets eine echte Rechtsprechungsänderung voraussetzt. Wertet man die Entscheidungsgründe des Herrenberg-Urteils aus, ist jedoch nicht von einer echten Rechtsprechungsänderung, sondern von einer Konkretisierung und Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung auszugehen. Das wird auch daran deutlich, dass das BSG in seiner Entscheidung vom 28. Juni ausdrücklich auf seine alten Entscheidungen Bezug nimmt, etwa auf ein Urteil vom März 2018.

Geltung auch für andere Branchen?

Das Urteil lässt sich wohl nur bedingt auf andere Berufsstände übertragen. Grundsätzlich sind die Abgrenzungskriterien für die Differenzierung zwischen selbstständiger und abhängiger Beschäftigung zwar immer gleich. Es ist jedoch auch immer das konkrete Berufsbild zu betrachten und je nachdem werden die relevanten Kriterien konkretisiert. Das hat das BSG im Herrenberg-Urteil auch getan (Zuweisung von Stundenplänen oder Lehrplänen, Teilnahmepflicht an Gesamtlehrer- und Fachbereichskonferenzen, Einbindung in die schulische Gesamtorganisation usw.). Daher lassen sich diese Abgrenzungskriterien allenfalls auf verwandte Berufsstände übertragen.

Fazit

Auch wenn die Entscheidung über den Vertrauensschutz noch aussteht, ist davon auszugehen, dass die im Herrenberg-Urteil niedergeschriebenen Abgrenzungsmerkmale auch für die statusrechtliche Bewertung von Altfällen gelten. Musik- und Volkshochschulen sind also – insbesondere vor dem Risiko der Scheinselbstständigkeit – gut beraten, nicht nur die neuen, sondern auch die bisherigen Vertragsverhältnisse auf den Prüfstand zu stellen.

Zum Autor

DH
Daniel Hammes

Rechtsanwalt bei FPS in Frankfurt am Main

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