Digitaler Rechtsschutz - 29. Mai 2020

Der Weg zur Justiz 4.0

Wie alle anderen Gerichtsbarkeiten stehen auch die Finanzgerichte derzeit einer Vielzahl von Veränderungsprozessen gegenüber, die vor allem auf das Megathema unserer Zeit – die Digitalisierung – zurückzuführen sind.

Für die steuerberatenden Berufe ist die rasant zunehmende Digitalisierung längst gängige Praxis. Sie prägt aber mittlerweile auch und gerade das gesamte Arbeitsleben in der ­Finanzgerichtsbarkeit. Wie kein anderer Gerichtszweig vollzieht sie erfolgreich den technischen und digitalen Wandel und hat mittlerweile die hierfür notwendigen Modernisierungsprozesse abgeschlossen. Im Ergebnis nehmen die drei Finanzgerichte (FG) Nordrhein-Westfalens, also die Finanzgerichte Düsseldorf, Köln und Münster, bei der Digitalisierung eine Vorreiterrolle ein.

E-Akte

Das betrifft etwa die Einführung der elektronischen Akte. Diese wurde in der Finanzgerichtsbarkeit pilotiert und ist hier mittlerweile erfolgreich eingeführt und ausnahmslos Standard. Beim Finanzgericht Münster arbeiten sämtliche der 15 Senate mit der elektronischen Akte. Gleich ob also nun ein Schriftsatz das Finanzgericht per Brief, per Telefax oder über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) erreicht, wird er elektronisch zur Akte erfasst. Daher ist für den Finanzrichter das papierlose Arbeiten längst gängige Praxis geworden. Damit gehören die Papierakte und meterlange Aktenregale auch in der Finanzgerichtsbarkeit längst der Vergangenheit an.

Papierakten und meterlange Akten­regale auch in der Finanzgerichts­barkeit ­gehören längst der ­Vergangenheit an.

Technische Ausstattung

Diese Entwicklung wird dadurch unterstützt, dass die Gerichtsangehörigen technisch anspruchsvoll ausgestattet sind. Sie nutzen an ihrem Arbeitsplatz nicht nur große und moderne Doppelbildschirme, um die digitalisierten Inhalte einfacher aufnehmen und ohne Medienbruch weiter bearbeiten zu können. Auch ist die gesamte Richterschaft mit leistungsfähigen Laptops ausgestattet. Hierüber können die Finanzrichter jederzeit und von jedem Ort aus auf ihr richterliches Dezernat zugreifen.

Vorteile für Bürger und steuerliche Berater

Die vorgenannten Digitalisierungsmaßnahmen unterstützen nicht nur bei der Vereinfachung der Verwaltung und dem Bürokratieabbau, sondern führen vielmehr zu praktischen Verbesserungen für den Steuerbürger und seinen Berater, die Rechtsschutz suchen. Die Einführung der E-Akte in der Finanzgerichtsbarkeit bewirkt unmittelbare Erleichterungen beim Recht der Akteneinsicht. In die bereits vollständig digitalisierten Finanzgerichtsakten sowie die teilweise digitalisierten Beiakten können die Steuerbürger und deren Berater jetzt schon Akteneinsicht nehmen, indem ihnen die Akten als Datenkopie, etwa über einen USB-Stick, im PDF-Format zur Verfügung gestellt werden. Dadurch erübrigt sich nicht nur ein Gang in die Diensträume, sondern es lässt sich die Akte auch komfortabler über die Suchfunktion erschließen. Die verbesserte technische Ausstattung der Finanzrichter führt darüber hinaus zu Effizienzgewinnen, wie etwa bei außerhalb des Gerichts durchgeführten Erörterungsterminen. So können die Finanzrichter jederzeit Einsicht in die mitunter umfangreichen Gerichtsakten nehmen. Der Einsatz des Laptops ermöglicht es den Finanzrichtern auch, notwendige Berechnungen (beispielsweise für die Überprüfung von Schätzungen der Finanzämter) mithilfe eines Tabellenkalkulationsprogramms transparent an den aktuellen Stand der Erörterung anzupassen. Auf diese Weise lassen sich die Auswirkungen möglicher Verständigungen unmittelbar vorhersehen, was einem rechtssicheren Abschluss des Klageverfahrens dient.

Großbildschirme und Videokonferenzen

Nicht zu unterschätzen ist auch die Ausstattung der im Gericht vorhandenen Sitzungssäle und Besprechungsräume mit moderner Technik. Beamer, Portable und fest installierte Großbildschirme ermöglichen es den Finanzrichtern, Auszüge aus der digitalen Akte und Berechnungen für alle Beteiligten, etwa während einer mündlichen Verhandlung, anschaulich zu präsentieren. Ferner sind im Finanzgericht Münster mehrere Anlagen zur Durchführung von Videokonferenzen vorhanden. Dadurch ist es möglich, Verfahrensbeteiligten, Sachverständigen und Zeugen auf Antrag zu gestatten, sich während einer mündlichen Verhandlung oder eines Erörterungstermins an einem anderen Ort aufzuhalten und dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die gerichtliche Verhandlung wird dann – ohne dass eine Speicherung der per Videokonferenz durchgeführten Verhandlung stattfindet – zeitgleich in Bild und Ton an den Ort, an dem sich die Beteiligten sowie ihre Bevollmächtigten aufhalten, und in den Sitzungssaal übertragen. Das ist gerade für das Finanzgericht Münster mit seinem weitläufigen Zuständigkeitsgebiet ein enormer Vorteil. Denn so können auch die Steuerbürger und/oder ihre Bevollmächtigten komfortabel von ihrem näher gelegenen Wohnsitzfinanzamt oder anderen Behörden aus an einer mündlichen Verhandlung beziehungsweise an einem Erörterungstermin teilnehmen. Dabei ist auch eine Dreierschaltung keine Seltenheit. Diese ermöglicht es, dass ein Berater von Süddeutschland aus virtuell in Münster verhandelt, während sein Mandant vom nahe gelegenen Wohnsitzfinanzamt in Nordrhein-Westfalen aus an der mündlichen Verhandlung teilnimmt. Den Beteiligten erspart das Zeit und Geld. Inzwischen stehen bundesweit in einer Vielzahl von Justizbehörden Videokonferenzanlagen zur Verfügung. Eine aktuelle Übersicht hierüber mit Ansprechpartnern, deren Telefonnummern und E-Mail-Adressen können über das Justizportal des Bundes und der Länder eingesehen werden. Seit Kurzem bieten die nordrhein-westfälischen Finanzgerichte den Beteiligten und deren Beratern kostenlose WLAN-Zugänge im Wartebereich und in den Sitzungssälen an. Steuerbürger können auf diese Weise Wartezeiten sinnvoll nutzen. Beratern erlaubt der kostenlose Internetzugang noch Recherchen in Datenbanken oder im eigenen digitalen Aktenbestand.

Datenschutz und Informationssicherheit

Bei alledem legt die Justiz besonderen Wert auf Datenschutz, die Informationssicherheit sowie eine Hochverfügbarkeit. Um diesen Aspekten gerecht zu werden, wurde für die gesamte IT-Struktur der Justiz Nordrhein-Westfalens ein Rechenzentrum mit höchstem Sicherheitsstandard eingerichtet. Die Überführung des Datenbestands der Finanzgerichtsbarkeit in dieses Rechenzentrum wurde bereits 2019 vollständig abgeschlossen.

Digitale Außenprüfung und Rechtsschutz

Gerade die Finanzverwaltung treibt die Digitalisierung ihrer Arbeitsbereiche maßgeblich voran. Aktuell zeigt sich das speziell bei der digitalen Außenprüfung mit ihren mathematisch-statistischen Prüfungsmethoden, die von der Finanzverwaltung verstärkt eingesetzt werden. Digitale Betriebsprüfer-Tools, wie die Summarische Risikoprüfung, die Quantilsschätzung, die Schnittstellenverprobung und die Verprobung mittels Monetary Unit Sampling, werden die Steuerbürger, ihre Berater sowie die Finanzgerichte vor neue Herausforderungen stellen. Bereits jetzt hat die Finanzgerichtsbarkeit richtungsweisend klargestellt, dass ein Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gerade in der digitalen Welt besteht.

Verfahrensrechtliche Garantien

Verfahrensrechtliche Garantien sind zu wahren, um bei den digitalen Prüfungsmethoden ein faires und transparentes Verfahren sicherzustellen. Weil bei den digitalen Prüfungsmethoden gewaltige Datenmengen produziert werden, muss der Außenprüfer sowohl seine Datengrundlagen als auch die Ergebnisse der Weiterverarbeitung sowie seine Ermittlungen, die zu diesen Ergebnissen geführt haben, offenlegen. Sie sind dem Steuerbürger und dem Berater zur Verfügung zu stellen, damit sie eigenständig überprüft werden können. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass die Finanzgerichte die Darlegungslast im Ausgangspunkt dem Außenprüfer zuweisen. Dieser muss zudem seine digitalen Prüfungstools nicht nur sorgfältig einsetzen, sondern auch von Amts wegen und nicht erst auf Nachfrage erläutern. Daher darf sich der Außenprüfer nicht auf den Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden EDV beschränken. Er wird sich vielmehr individuell mit den Umständen des geprüften Unternehmens befassen und auseinandersetzen müssen.

Inhaltliche Kontrolle durch das Finanzgericht

Auf die vorstehenden verfahrensrechtlichen Gesichtspunkte ist die Prüfung durch das Finanzgericht aber nicht beschränkt. Vielmehr erstreckt sich die gerichtliche Kontrolle auch auf die inhaltliche Richtigkeit der Ergebnisse digitaler Außenprüfungen. So darf sich der Außenprüfer in der Sache keinesfalls mit dem Hinweis begnügen, dass digitale Prüfungsmethoden ausschließlich Daten aus der eigenen Buchhaltung des Steuerpflichtigen betreffen. Das trifft zwar im Ansatz zu. Verarbeitet der Außenprüfer aber die Daten weiter, stützt er dies auf bestimmte Annahmen, etwa die Bestimmung des Wareneinsatzes, ausgehend vom Wareneinkauf durch Abzug geschätzter Werte wie Eigenverbrauch, Schwund, Umschlagshäufigkeit und Lagerhaltung. Bereits das verlangt vom Außenprüfer eine sorgfältige und fehlerfreie Ermittlung der Ausgangsparameter für seine Prüfungsergebnisse. Zudem muss er die digitale Schätzungsmethode selbstverständlich technisch korrekt anwenden. Soweit der Außenprüfer bei digitalen Außenprüfungsmethoden von der Richtigkeit bestimmter Verteilungsideale ausgeht – zum Beispiel dem Newcomb/Benford-Gesetz oder der Gauß‘schen Normalverteilung – und bei Abweichungen von diesen Verteilungsmustern nachteilige Schlussfolgerungen für den von ihm geprüften Steuerpflichtigen ziehen möchte, kann es sich mitunter anbieten, das Gutachten eines mathematisch-statistischen Sachverständigen einzuholen. Schließlich muss das digital ermittelte Schätzungsergebnis in sich schlüssig, wirtschaftlich vernünftig und möglich sein. Daher werden die Finanzgerichte auch bei technisch korrekter Durchführung digitaler Schätzungsmethoden darauf achten, dass das Schätzungsergebnis nicht außerhalb jeder Plausibilität steht. Rechnerisch mögliche und grafisch scheinbar unmittelbar einleuchtende Ergebnisse werden die Finanzgerichte deshalb auch künftig einer kritischen Analyse unterziehen. Damit den modernen Prüfungsmethoden auf Augenhöhe begegnet werden kann, informieren sich nicht nur die Finanzrichter, sondern auch die Gerichtsprüfer, die in den nordrhein-westfälischen Finanzgerichten arbeiten, fortlaufend über Neuerungen bei digitalen Prüfungsmethoden.

Fundament für die Justiz 4.0

Zusammenfassend ist festzuhalten dass sich die Finanzgerichtsbarkeit den gravierenden Umstellungsprozessen gestellt hat, die sich aufgrund der Digitalisierung ergeben; dies nicht nur in organisatorischer und personeller Art, sondern auch in puncto Technik. Damit hält dieser Gerichtszweig Kurs in Richtung Justiz 4.0. Gleichzeitig wird die Digitalisierung des Abgabenrechts ständig neue Rechtsfragen aufwerfen, bei deren Beantwortung die Finanzgerichtsbarkeit zum Schutz einer rechtsstaatlichen Besteuerung eine ausgewogene Balance zu finden hat: einerseits, um die Gleichheit der Besteuerung zu wahren, und andererseits, um einen effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Trotz aller Modernisierung muss aber gelten, dass die Technik letztlich immer nur eine dienende Funktion haben wird. Im Mittelpunkt der finanzrichterlichen Tätigkeit stehen Menschen mit ihren Anliegen. 

Mehr dazu

Lernvideo: Gläserne Kassendaten – Analyse mit DATEV-Datenprüfung, Art.-Nr. 78859

Zum Autor

SB
Dr. Sascha Bleschick

Richter am Finanzgericht Münster.

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