Streitpunkt: anwaltliche Berufsausübung - 18. Dezember 2014

Gleiche unter Gleichen

Wer seinen Beruf als an­ge­stell­ter Anwalt einer Rechts­an­walts­kanzlei ausübt, wird vom Träger der ge­setz­lichen Ren­ten­ver­si­che­rung anders be­ur­teilt als der Anwalt im Man­dats­ge­schäft einer Steuer­be­rater- oder Wirt­schafts­prüfer­kanzlei. Diese Dif­fe­ren­zie­rung über­zeugt nicht, sie ist kaum nach­voll­ziehbar.

Mit seinen Urteilen vom 3. April 2014 setzte das Bundessozialgericht (BSG) neue Maßstäbe hinsichtlich der Voraussetzungen für die Befreiung anwaltlicher Berufsträger von der Ren­ten­ver­si­che­rungs­pflicht. Während Syndikusanwälte nicht mehr von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zu befreien sind, kommt nach Ansicht der Bundes­so­zial­richter § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI jedenfalls dort in Betracht, wo Anwälte ihren Beruf unabhängig und weisungsfrei bei einem anwaltlichen Arbeitgeber ausüben. Mit anderen Worten: Wenn angestellte Rechtsanwälte eine berufsspezifische, an­walt­liche Tä­tig­keit ausüben, kann ihnen weiterhin ein Befreiungsanspruch zustehen. Im Falle der man­dats­be­ar­bei­ten­den Anwälte in Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüferkanzleien wird eine an­waltliche Berufsausübung im vorgenannten Sinne häufig infrage gestellt – nach meiner Ansicht zu Unrecht.

Anwalt beim Anwalt

Zu regeln ist die unabhängige, weisungsfreie Berufsausübung des angestellten Anwalts.

Nach der jüngsten BSG-Recht­spre­chung sowie der Ver­wal­tungs­praxis der Deut­schen Ren­ten­ver­si­che­rung (DRV) Bund er­hal­ten Rechts­an­wälte, die in An­walts­kanz­leien be­schäf­tigt sind, in aller Regel auf Antrag einen Be­freiungs­be­scheid nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI – und dies bei erst­ma­liger Auf­nahme einer An­walts­tä­tig­keit nach er­folg­ter Zu­las­sung eben­so wie im Falle eines we­sent­lichen Tä­tig­keits­wechsels in dem­selben an­walt­lichen Be­schäf­ti­gungs­ver­häl­tnis be­zie­hungs­weise nach einem Um­stieg zu einer anderen An­walts­kanzlei. Veränderungen im vorgenannten Sinne machen aber jeweils einen neuen Befreiungsantrag erforderlich, wie das BSG mit Urteilen vom 31. Oktober 2012 festgestellt hatte. Mit Blick auf die Anforderungen, die durch die Bundessozialrichter in ihrem Terminbericht vom 4. April 2014 formuliert wurden, ist im Falle angestellter Anwälte maßgeblich darauf zu achten, dass deren Arbeitsverträge eine unabhängige und weisungsfreie Berufsausübung sicherstellen. Wird dem entsprochen, ist damit zu rechnen, dass die DRV Bund eine Befreiung ausspricht.

Anwalt beim Steuerberater und Wirtschaftsprüfer

Völlig anders beurteilt werden leider die Fälle der angestellten Rechtsanwälte in Steuerberater- oder Wirt­schafts­prü­fer­kanz­leien. Schon vor den Entscheidungen des BSG vom 3. April 2014 behandelte die DRV Bund Anwälte, die als Beschäftigte von Steuerberatungs- oder Wirt­schafts­prü­fungs­kanz­leien ihre Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung beantragt hatten, routinemäßig als Angestellte nicht anwaltlicher Arbeitgeber. Eine Differenzierung zwischen Unternehmensanwalt einerseits und Kanzleianwalt andererseits fand und findet hier nicht statt. Daraus resultierte in den vergangenen Jahren reichlich Reibung in unzähligen Be­frei­ungs­ver­fahren.
Seit den Urteilen des BSG vom 3. April 2014 führt die behördliche Gleichstellung der Anwälte aus Steuerberater- und Wirtschaftsprüferkanzleien mit Syndikus- beziehungsweise Unter­neh­mens­an­wälten für die Betroffenen quasi automatisch zum Ablehnungsbescheid. Ob diese Praxis mit dem Gesetz vereinbar ist, bedarf noch einer Klärung durch die Rechtsprechung. Es sprechen jedenfalls gute Gründe dagegen.
Den drei genannten Entscheidungen des 5. BSG-Senats ist als eine Kernthese zu entnehmen, dass anwaltliche Berufsausübung in der äußeren Form einer Beschäftigung nicht möglich sei.
Zur Begründung seiner Feststellung zieht das Gericht maßgeblich das Tätigkeitsbild des Rechts­an­walts im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts sowie des Europäischen Gerichtshofs heran und stellt diesen Konturen das typische Tä­tig­keits­profil eines Syndikusanwalts als unvereinbar gegenüber.
Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass die zitierten BSG-Urteile nicht ohne Weiteres auf Anwälte in steuerberatenden und wirtschaftsprüfenden Gesellschaften übertragbar sind, unter­scheiden sich die Charakteristika deren beruflichen Wirkens doch regelmäßig deutlich von denen eines Syndikus.
So sind die meisten Anwälte in Steuerberater- und Wirtschaftsprüferpraxen – abgesehen von internen Funktionen, speziell Rechtsabteilungen – nicht wie Syndizi mit den Rechts­an­ge­le­gen­heiten ihres Arbeitgebers befasst, sondern vielmehr in dessen jeweiligem Kanzleibetrieb als Berater und Vertreter für externe Mandanten tätig. Während jedem Anstellungsverhältnis naturgemäß eine gewisse Weisungsgebundenheit und Über-/Unterordnung immanent sind, entspricht die Mandatstätigkeit angestellter Anwälte in einer Steuerberatungs- oder Wirt­schafts­prü­fungs­kanz­lei im Grundsatz nicht minder den typischen Wesensmerkmalen freier Be­rufs­aus­übung wie die Tätigkeit angestellter Berufskollegen bei einer Rechtsanwaltskanzlei. In beiden Umgebungen werden Anwälte üblicherweise hinreichend frei und unabhängig für ihre Mandanten tätig, sie stehen im Umfang ihres Beratungs- und Vertretungsspektrums grundsätzlich allen Rechtssuchenden zur Verfügung, und sie füllen in ihrem Auftreten nach außen zweifelsfrei das Berufsbild eines Anwalts als unabhängiges Organ der Rechtspflege aus.

Vergleichbarkeit der Kanzleien

Überhaupt erscheint die Unterscheidung zwischen Anwälten in Anwaltskanzleien und Rechtsanwälten in sonstigen zur Erbringung von Rechtsdienstleistungen befugten Kanzleien über weite Strecken geradezu künstlich. So bleibt in der Befreiungspraxis der DRV Bund bislang völlig unberücksichtigt, dass etwa der Kanzleibetrieb eines Steuerberaters vom Praxisschild über das Fristenbuch bis hin zur Robe der Kanzlei eines Rechtsanwalts entspricht. Im zulässigen Umfang des jeweils anwendbaren Berufsrechts sowie des Rechtsdienstleistungsgesetzes erbringen Anwälte in Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungskanzleien Rechtsdienstleistungen, wie sie auch von Anwaltskanzleien vergleichbarer fachlicher Ausrichtung angeboten werden. Allen genannten freien Berufen ist die Beratung von Mandanten und deren Vertretung gegenüber Behörden und Gerichten gemein. Ein Blick in die Zivil- beziehungsweise Strafprozessordnung offenbart vergleichbare prozessuale Privilegien, insbesondere Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlag­nahmeverbote. Wie Rechtsanwälte sind auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sowie deren Berufshelfer strafbewehrt zur Berufsverschwiegenheit verpflichtet. Steuerberatung ist im Übrigen Rechtsberatung in Steuersachen, mithin Teil der Rechtsberatung.

Vergleichbarkeit der Berufsausübung

Eine kanzleitypische Tätigkeit als rechtlicher Berater und Vertreter von externen Mandanten ist stets anwaltliche Berufsausübung.

Demzufolge kann es nicht über­zeu­gen, wenn im Man­dats­ge­schäft tätige Rechts­an­wälte je nach spezi­fischer Be­rufs­zu­las­sung ihres Ar­beit­gebers in unter­schied­liche Schub­laden ge­steckt werden. Eine solche Praxis lässt in den Be­frei­ungs­ver­fahren gemäß § 6 SGB VI keine sach­ge­rech­ten Ergebnisse erwarten.
Eine kanzleitypische Tä­tig­keit als recht­licher Be­rater und Ver­tre­ter ex­ter­ner Man­dan­ten ist viel­mehr stets an­walt­liche Berufs­aus­übung und wird von der All­ge­mein­heit auch unter dem Dach einer Steuer­be­ra­tungs- oder Wirt­schafts­prü­fungs­kanz­lei als solche wahr­ge­nommen. Im Gegensatz zu den durch das BSG für Syndizi aufgestellten Thesen erscheint es daher – jedenfalls im Mandatsgeschäft – weder zwingend noch sachnah, auf dem Rücken einer Zweitberufstheorie die arbeitsvertraglich unterlegte Tätigkeit kategorisch von der Rechtsanwaltstätigkeit auszunehmen.

Ausblick

Bis zu einer etwaigen Kurskorrektur durch den Gesetzgeber oder die Rechtsprechung ist nach der gegenwärtigen Behördenpraxis damit zu rechnen, dass weiterhin auch mandatsbetreuende Rechtsanwälte in Steuerberater- und Wirt­schafts­prü­fer­kanz­leien seitens der DRV Bund als Unternehmensanwälte eingeordnet werden. In aller Regel bedeutet das eine Zurückweisung der Befreiungsanträge.
Wie oben aufgezeigt, darf die Rechtmäßigkeit entsprechender Bescheide angezweifelt werden, insbesondere, soweit gleichartige anwaltliche Berufsausübung je nach Zulassung der be­schäf­ti­gen­den Kanzlei ungleich behandelt wird.
Bei einem Rechtsanwalt angestellte Anwälte können nach dem Terminbericht des BSG vom 4. April 2014 auch in Zukunft von der gesetzlichen Rentenversicherung befreit werden, sofern sie ihren Beruf hinreichend unabhängig und weisungsfrei ausüben.
Es ist kein plausibler Grund ersichtlich, warum Anwälte in Steuerberatungs- und Wirt­schafts­prü­fungs­kanz­leien nicht nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen und unter den gleichen Voraussetzungen zu befreien wären. Der im Terminbericht gewählte Zusatz „insbesondere“ deutet in diese Richtung. Wie entsprechende Beschäftigungsverhältnisse aussehen müssen, lässt das BSG bislang leider offen. Es liegt nun an den bei Steuerberatern oder Wirtschaftsprüfern angestellten Anwälten, die zwischenzeitlich durch die DRV Bund negativ beschieden wurden, den Gerichten eine umfassende Konkretisierung und Weiterentwicklung der einschlägigen Recht­spre­chung zu ermöglichen.

Zum Autor

TM
Thomas Melcher

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Steuerrecht sowie Steuerberater; Partner bei der WTS Group AG Steuerberatungsgesellschaft, München, www.wts.de

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