Die Europäische Union - 22. Dezember 2021

Reformbedarf auf vielen Ebenen

Die Tatsache, der weltweit größte Binnenmarkt zu sein und für Demokratie und Menschenrechte zu stehen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäische Idee auf dem Prüfstand steht und sich zahlreichen Herausforderungen stellen muss.

Das Jahr 2021 ist zeitlich von 1980 genauso weit entfernt wie 1980 von 1939. Der andauernde Wohlstand und der Frieden während der letzten Jahrzehnte sind ganz elementar auf die Europäische Union (EU) und ihre verschiedenen Vorgängerorganisationen zurückzuführen. Dennoch reißt die Kritik an der EU und ihren Institutionen nicht ab. Und während die einen eine Neuverhandlung der Verträge fordern, wünschen sich andere frei nach Winston Churchill die Vereinigten Staaten von Europa.

Weltweit größter Binnenmarkt

Diejenigen, die mehr nationalstaatlichen Elementen das Wort reden, so sie die Rolle der EU nicht gänzlich beschneiden wollen, fordern eine stärkere oder doch wenigstens gleichbleibende Rolle des Rats der EU. Diejenigen, die eine weitere Entwicklung der EU von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat wünschen, betonen dagegen die Rolle des Europäischen Parlaments, dessen Befugnisse ja doch erheblich hinter den Befugnissen eines konventionell geprägten kontinentaleuropäischen Parlaments zurückbleiben. Was in der Diskussion leider immer wieder untergeht: Europa ist der weltweit größte Binnenmarkt. Ein paar Ineffizienzen können wir uns da leisten, ähnlich wie die US-Amerikaner mit ihrem Justiz- und Exekutivsystem oder die Südostasiaten mit zweifelhaftem gewerblichen Rechtsschutz. Um die Wettbewerbsfähigkeit der EU ist es jedenfalls durchaus gut bestellt: Die europäischen Wettbewerbsregeln werden weltweit durchgesetzt, aktuell etwa zum großen Schmerz von Google oder Facebook.

Problemfelder

Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Mitgliedstaaten auf anderen Gebieten weniger einig zeigen. So schwelt etwa seit Jahren ein Streit über einen gerechten Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge und die Sicherung der Außengrenzen. Auch das 750-Milliarden-Euro-Corona-Rettungspaket kam erst nach zermürbenden Verhandlungsmarathons und gefühlter Ewigkeit zustande. Und seit der Eurokrise steht die Europäische Zentralbank unter Dauerbeschuss. Im Aufkauf immer neuer Staatsanleihen erkennen Euroskeptiker ein Demokratiedefizit. Doch bei aller berechtigter Kritik: Nicht selten sind es die lautesten Mahnerinnen und Mahner selbst, die vor der eigenen Haustür viel zu kehren hätten, stattdessen aber die EU und ihre Institutionen als Projektionsfläche für innenpolitische Zwecke missbrauchen.

Vorzüge der EU

Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, deren wesentliche Ergebnisse am Ende dieses Beitrags präsentiert werden, lassen sich die Bürgerinnen und Bürger in der EU von derlei Störfeuer nicht irritieren. Die Achtung der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit durch die EU wird in 14 Ländern als wichtigster Vorteil eingestuft. Um die Bürger der EU stärker in den Demokratie- und Reformprozess einzubinden, wurde eine Konferenz zur Zukunft Europas ausgerufen, die bis 2022 dauert und mit einem Abschlussbericht endet.

Systemimmanente Defizite

Soweit der EU ein Demokratiedefizit nachgesagt wird, ist dieses bereits in ihrer völkerrechtlichen Struktur angelegt. Denn die EU ist eine Gemeinschaft des Völkerrechts, deren Handlungsfelder in zwei Verträgen geregelt sind: dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und dem Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Beide Verträge wurden zuletzt durch den Vertrag von Lissabon geändert, der am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. In all den Jahrzehnten haben sich die Mitgliedstaaten nicht darauf einigen können, das Europäische Parlament als zentrales Gesetzgebungsorgan anzuerkennen. Entstanden ist stattdessen das Mitentscheidungsverfahren nach Art. 294 AEUV. Wegen des danach notwendigen Trialogs zwischen Parlament, Kommission und Rat der EU gilt es als recht behäbig.

Mahnendes Beispiel

Als Beispiel sei nur an die Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) erinnert. Schon seit der vorigen Jahrhundertwende ist man in Europa bemüht, ein möglichst gleichförmiges internationales Privatrecht (IPR) zu schaffen. Immerhin konnte man sich auf vertragliche Schuldverhältnisse einigen, sodass 1980 das Europäische Schuldvertragsübereinkommen (ein Staatsvertrag) in Kraft trat, das in Deutschland als Art. 27 ff. Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) umgesetzt wurde. Für außervertragliche Schuldverhältnisse konnte eine solche Einigkeit nicht erzielt werden. Erst 1998 beschloss der Rat einen Aktionsplan, der sich dieses Themas wieder annehmen sollte. Die Verordnung trat allerdings erst 2009 in Kraft. Zwei Erkenntnisse ergeben sich hier unmittelbar: Elf Jahre sind sehr lang und der Trialog ist sehr mühsam. Zudem ist jede Gesetzgebung ein politischer Kompromiss. Wenn indes ein Kompromiss nicht nur zwischen zwei, sondern gleichsam drei Parteien gefunden werden muss, wird das Ergebnis gewiss nicht besser. Im Fall der Rom-II-Verordnung führte dies etwa dazu, dass eine Grundregel geschaffen wurde, die in allen relevanten Punkten durch Sonderregeln wieder außer Kraft gesetzt wird.

Die europäischen Institutionen

Die wesentlichen Institutionen der EU, wie sie in Art. 13 EUV aufgeführt sind, sind im Kern der Europäische Rat, der Rat der EU, die Kommission, das Europäische Parlament, der Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und schließlich der Europäische Rechnungshof. Das Zusammenspiel dieser Institutionen ist, dies dürfte unstrittig sein, ebenfalls reformbedürftig, um die Zukunft Europas zu sichern beziehungsweise der berechtigten Kritik an der EU zu begegnen. Das Wesen und Wirken der europäischen Institutionen sowie ihr Zusammenspiel würde an dieser Stelle jedoch zu weit gehen und ist daher einem gesonderten Beitrag vorbehalten.

Konferenz zur Zukunft Europas

Es besteht jedenfalls allgemein Einigkeit darüber, die EU weiterzuentwickeln. Vor diesem Hintergrund wurde die Konferenz zur Zukunft Europas ausgerufen. Das Europäische Parlament, der Rat und die Europäische Kommission haben sich verpflichtet, die Europäer anzuhören und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten der Empfehlung dieser Konferenz zu folgen. Die Konferenz wird voraussichtlich bis zum Frühjahr 2022 Schlussfolgerungen mit Leitlinien für die Zukunft Europas erarbeiten. An der Konferenz teilnehmen können alle europäischen Bürger aus allen Gesellschaftsschichten und aus allen Mitgliedstaaten sowie europäische, nationale, regionale und lokale Behörden und alle Organisationen, die Veranstaltungen im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas organisieren und Ideen einbringen möchten. Bestandteile der Konferenz sind eine mehrsprachige digitale Plattform, auf der Bürger ihre Ideen austauschen und Online-Beiträge einreichen können. Diese Beiträge werden während der gesamten Konferenz auf der Plattform gesammelt, analysiert und veröffentlicht.

Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage

Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission haben dieses Jahr die erste gemeinsam für beide Organe durchgeführte Eurobarometer-Umfrage veröffentlicht. Danach sind drei Viertel der Europäer der Ansicht, dass die Konferenz zur Zukunft Europas positive Auswirkungen auf die Demokratie in der EU haben wird: 76 Prozent sehen in ihr einen bedeutenden Fortschritt für die Demokratie in der EU. Während die Teilnahme an den Europawahlen von 55 Prozent der Befragten eindeutig als der wirksamste Weg angesehen wird, sich gegenüber den Entscheidungsträgern auf EU-Ebene Gehör zu verschaffen, wünschen sich 92 Prozent der Bürger auch ein größeres Mitspracherecht bei Entscheidungen über die Zukunft Europas. Die Europäer sind der Ansicht, dass die wichtigsten Vorteile der EU in der Achtung der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit (32 Prozent) sowie in ihrer Wirtschafts-, Industrie- und Handelsmacht (30 Prozent) bestehen, wo 58 Prozent diese Werte als Schlüsselfaktoren ansehen. Die Wirtschafts-, Industrie- und Handelsmacht der EU wird in neun Ländern als wichtigster oder wichtigster gemeinsamer Vorteil angegeben, wobei Finnland (45 Prozent) und Estland (44 Prozent) hier an erster beziehungsweise zweiter Stelle stehen. 45 Prozent der Europäer sehen im Klimawandel eindeutig die größte globale Herausforderung für die Zukunft der EU. An zweiter und dritter Stelle werden von einem ähnlich großen Anteil der Befragten Terrorismus (38 Prozent) und Gesundheitsrisiken (37 Prozent) angeführt. Zwangsmigration und Vertreibung stellen für etwas mehr als einem Viertel (27 Prozent) der Europäer die viertgrößte Herausforderung dar.

Zum Autor

TT
Dr. Thomas Thiede LL. M.

Rechtsanwalt in der Dortmunder Wirtschaftskanzlei Spieker & Jaeger. Er ist spezialisiert auf die Beratung und die Vertretung von Mandanten im deutschen und europäischen Kartellrecht sowie im Handels- und Gesellschaftsrecht. Er ist Lehrbeauftragter an der Karl-Franzens-Universität in Graz, Österreich, und an der Ruhr-Universität in Bochum.

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