Die Zukunft Europas - 22. Dezember 2021

Politiker, hört auf eure Bürger!

Die Vollendung des vereinigten Europas ist mit Blick auf die geostrategische Lage der Alten Welt im Verhältnis zu den Global Playern China, USA und Russland alternativlos. Trotz aller bestehenden Probleme ist die Europäische Union weiterhin auf einem guten Weg, wie Joris Duffner vom Europe Direct Zentrum in Dortmund erläutert.

DATEV magazin: Die Zukunft der EU sah schon einmal rosiger aus. Die europäische Idee steht auf dem Prüfstand. Droht Europa zu scheitern, und wenn ja, warum?

JORIS DUFFNER: Die Europäische Union war in ihrer Geschichte immer dann am stärksten, wenn sie sich mit Krisen konfrontiert sah. Eine Staatengemeinschaft, die es vollbracht hat, sich in wenigen Jahrzehnten von erbitterten Kriegsgegnern zum freien Warenverkehr, offenen Grenzen, Erasmus und Interrail zu entwickeln, wird auch an den jetzigen Herausforderungen nicht scheitern. Natürlich gibt es momentan einige Schwierigkeiten, und auch bei den Corona-Maßnahmen hat die EU zu Beginn kein gutes Bild abgegeben. Aber das Versprechen, ausreichend Impfstoff für alle bis zum Sommer beschafft zu haben, wurde eingehalten und mit NextGenerationEU steht ein Aufbauprogramm in den Startlöchern, das seinesgleichen sucht.

Spätestens mit dem Brexit wurde klar, dass es in der EU starke Tendenzen zu einer Renationalisierung gibt. Droht mit Blick auf Ungarn und Polen womöglich ein Dominoeffekt?

Ich denke nicht, dass es diese Tendenzen tatsächlich gibt. Das Brexit-Referendum war äußerst knapp und wurde von Falschbehauptungen in der Pro-Brexit-Kampagne beeinflusst. Nun stellt sich für viele Briten heraus, dass sie ohne die EU keineswegs besser dastehen. Bei den Beispielen Ungarn und Polen muss man stark zwischen der momentan amtierenden Regierung und der Stimmung zur EU in der Bevölkerung unterscheiden. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sowohl Polen als auch Ungarn in der Mehrheit eher proeuropäisch eingestellt sind und der EU sogar mehr vertrauen als ihrer nationalen Regierung.

Bei den Themen Migration und Klimakrise, die schon zur Europawahl 2019 als Herausforderungen definiert wurden, sind die Fronten massiv verhärtet. Wie kann hier eine Lösung der Probleme gelingen?

Diese beiden Themen hängen auf den zweiten Blick sogar unmittelbar zusammen. Bei einem starken Klimawandel werden weitaus mehr Klimaflüchtlinge den Weg nach Europa suchen. In der Flüchtlings- und Migrationspolitik müssen wir dringend ein neues europäisches System der gerechten Aufnahme und Verteilung von Migranten schaffen. Die Dublin-Verordnung, die besagt, dass der Staat, an dem Asylsuchende ankommen, diese auch aufnehmen muss, birgt Konfliktpotenzial und ist nicht praktikabel. Es wäre eine drängende Aufgabe für die neue Bundesregierung, hier die Initiative auf europäischer Ebene zu suchen. Was die Klimapolitik angeht, entwickelt sich gerade in vielen Mitgliedstaaten ein großes Engagement hin zur Klimaneutralität in den kommenden Jahrzehnten. Und mit Fit for 55 hat die EU-Kommission ein ambitioniertes Ziel gesetzt: 55 Prozent weniger Emissionen im Jahr 2030 verglichen mit 1990. Aber natürlich schaut man in ganz Europa auch auf Deutschland. Die Bundesrepublik ist immer noch unter den klimaschädlichsten Volkswirtschaften in Europa.

Vor allem Bürgerbewegungen stehen auch dafür, eine europäische Identität zu schaffen. Wie soll dies aber gelingen, wenn die meisten Staaten gar nicht bereit sind, weitere Kompetenzen an die EU abzugeben?

Ich denke, auch hier ist die Bevölkerung Europas schon weiter, als es durch die nationale Politik manchmal suggeriert wird. Viele fühlen sich bereits als Europäer, haben schon eine europäische Identität. Nicht zuletzt gibt es bereits weit über eine Million Erasmus-Babys und viele Austauschstudenten haben den Partner, den sie in einem anderen europäischen Land kennengelernt haben, geheiratet. Und man kann schließlich auch mehrere Identitäten haben. Dortmunder, Deutscher, Niederländer und Europäer – auch für mich persönlich schließt sich das überhaupt nicht aus. Was die Frage der EU-Kompetenzen angeht, wird sich in den kommenden Jahren sicherlich auch noch einiges tun. Bereits jetzt hat sie in vielen Bereichen mehr Kompetenzen, als wir im Alltag immer wahrnehmen. Und in bestimmten Politikfeldern, zum Beispiel der Außen- und Sicherheitspolitik, setzt sich auch in den Nationalstaaten die Erkenntnis durch, dass mehr Entscheidungsgewalt auf EU-Ebene zu mehr Mitsprache für alle EU-Staaten auf der Weltbühne führen wird.

Die Errungenschaften der EU sind unbestritten, die Mitgliedstaaten leben in friedlicher Koexistenz nebeneinander. Steht gar der soziale Frieden in Europa auf dem Spiel, sofern die EU scheitern würde?

Völlig richtig, die größte Errungenschaft der EU ist das friedliche Zusammenleben von Staaten, die sich vor acht Jahrzehnten noch im von Deutschland begonnenen schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte gegenüberstanden. Das sollte immer wieder betont werden. Kein Land der Europäischen Union wird mit einem anderen Mitgliedsland in einem bewaffneten Konflikt stehen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass die EU aufgrund dieser Leistung auch nicht scheitern wird. Der soziale Frieden ist sicherlich noch einmal eine andere Frage, die in Zukunft noch mehr Gemeinsamkeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik erfordert.

Die Kommission hat eine Konferenz für die Zukunft der EU auf den Weg gebracht. Welche Ziele werden damit verfolgt?

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist der Versuch, das umfassendste Bürgerbeteiligungsprojekt in der Geschichte der EU umzusetzen. Jeder kann auf der Konferenzplattform seine Ideen zu verschiedenen Zukunftsthemen Europas einbringen und eigene Veranstaltungen organisieren. Anschließend werden die populärsten Ideen und Forderungen von der EU-Politik debattiert und fließen in Entscheidungen ein.

Die Corona-Pandemie hat unvorhergesehene Auswirkungen auf alle Staaten weltweit. Konnte sich die EU in dieser Krise bewähren?

Das wird sich abschließend erst in den kommenden Jahren zeigen. Nachdem die EU zu Beginn der Pandemie sicherlich kein gutes Bild abgegeben hat – Grenzschließungen, Uneinigkeit bei der Beschaffung von Medizinprodukten und eine zu zögerliche Impfstoffbeschaffung – hat sich der Auftritt der Union nun zum Besseren gewendet. Wir haben ausreichend Impfstoff für alle Europäer, innerhalb weniger Wochen wurde das EU-weite Impf- und Genesenenzertifikat entwickelt, und mit dem Aufbauprogramm NextGenerationEU steht auch finanzielle Hilfe bereit, die in Teilen bereits ausgezahlt wird. Insbesondere wie sich Letzteres auf die europäische Wirtschaft in den nächsten Jahren auswirken wird, entscheidet wahrscheinlich rückblickend über die Leistung der EU in der Corona-Krise.

Wirtschaftlich gesehen ist die EU eine Erfolgsgeschichte, aber leider nicht für alle Mitgliedstaaten. Wie könnte man dieses Problem lösen?

Durch den Binnenmarkt und den freien Personen- und Güterverkehr profitieren zunächst einmal alle Mitgliedstaaten auch wirtschaftlich von der EU. Und durch EU-Subventionen und Förderprogramme können viele wirtschaftliche Projekte – übrigens auch in Deutschland – erst realisiert werden. Aber es stimmt, insbesondere die Eurokrise ist bei einigen Ländern immer noch stark zu spüren. Kennzeichen hierfür ist sicherlich auch die sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Mitgliedstaaten. Ich denke, im anstehenden Jahrzehnt muss der Umbau der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität genutzt werden, um wirtschaftlichen Aufschwung in allen Mitgliedstaaten zu generieren. Das wird nur durch gezielte staatliche Investitionen gehen, wie sie beispielsweise im European Green Deal auch vorgesehen sind.

Im Weißbuch 2017 zur Zukunft der EU wurden schon fünf Szenarien durchgespielt. Von der Beibehaltung des Status quo über eine Konzentration auf den Binnenmarkt und einem Jeder-wie-er-will bis hin zu einer Steigerung der Effizienz beziehungsweise deutlichen Kompetenzerweiterung der EU. Welche Variante ist Ihrer Ansicht nach ein realistisches Szenario?

Momentan erscheint mir tatsächlich das Szenario Wer mehr will, tut mehr am wahrscheinlichsten. Auch wenn eine grundsätzliche proeuropäische Stimmung in der gesamten Union vorhanden ist, so sind bestimmte Integrationsschritte mit manchen Staaten nicht möglich. In diesem Szenario könnten dann trotzdem einige vorangehen und Kompetenzen zusammenlegen – beispielsweise in der Verteidigung, der Sozialpolitik oder der inneren Sicherheit. Wenn dies gut funktioniert, werden die Vorteile auch für alle anderen ersichtlich und diese können sich problemlos anschließen. Klar ist aber, dass dieses Szenario nur übergangsweise auftreten darf und nicht zu einer dauerhaften Teilung der Union in verschieden stark integrierte Lager führen kann.

Weitere Knackpunkte sind die Finanzpolitik – Stichwort: Euroeinführung – sowie die Aufnahme weiterer Mitgliedstaaten. In welche Richtung wird sich die EU hier weiterentwickeln?

Die Finanz- und Europolitik und die Erweiterung gehören mittelbar zusammen. Schließlich war immer der Plan, dass alle Mitgliedstaaten zu einem geeigneten Zeitpunkt auch den Euro einführen werden. Da hakt es momentan einfach noch bei der weiteren Angleichung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wenn wir wirklich vergleichbare wirtschaftliche Situationen in den Mitgliedstaaten samt einer Sozialunion hätten, wäre die Währungspolitik und somit auch die Euroeinführung einfacher. Den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten haben momentan fünf Staaten: Albanien, Nordmazedonien, Serbien, Montenegro und die Türkei. Während die Türkei sicherlich in den kommenden Jahren kein Mitglied werden wird, sieht es bei den Ländern des Westbalkans besser aus. An einem Beitritt der Kandidaten noch in diesem Jahrzehnt wird sich, denke ich, auch entscheiden, wie schnell sich die EU generell weiterentwickeln wird.

Ist der Spagat zwischen regionaler und nationaler Eigenständigkeit sowie europäischer Identität ein Widerspruch, der zu beenden ist? Und müssen nicht die Kompetenzen der EU erweitert werden, um die europäische Idee endlich zu vollenden?

Diesen Widerspruch sehe ich absolut nicht. Das beste Beispiel dafür, dass man mehrere Identitäten haben kann, die sich nicht gegenseitig behindern, ist Deutschland. Ein Ostfriese würde sich wahrscheinlich kulturell einem Oberbayern nicht besonders nah fühlen, und trotzdem feuern beide die deutsche Nationalmannschaft an. Natürlich mag dieser Schritt bei der europäischen Identität noch etwas größer sein, aber insbesondere jüngere Europäer – die Generation Erasmus – ist bereits mit der Selbstverständlichkeit eines freien Europas und einer europäischen Identität aufgewachsen. Die Kompetenzerweiterung ist davon abgesehen natürlich auch nötig und wird in den Politikfeldern, wo sie sinnvoll ist, in den kommenden Jahren auch verstärkt umgesetzt werden.

Werden wir die Vereinigten Staaten von Europa jemals erleben, und falls ja, wann etwa sind die europäischen Staaten dazu bereit?

Sicherlich nicht in wenigen Jahren. Ich denke allerdings, dass sich bis Mitte des Jahrhunderts ein Zeitfenster auftun wird, in dem klar ist, dass Europa in der Weltpolitik als Einheit auftreten muss, um sich insbesondere gegen eine neue Weltmacht China zu behaupten, da es sonst massiv an wirtschaftlicher und politischer Macht zu verlieren droht. Das könnte einen neuen Integrationsschub und vielleicht auch die Vereinigten Staaten von Europa zur Folge haben.

Zum Autor

Robert Brütting

Rechtsanwalt in Nürnberg und Fachjournalist Recht sowie Redakteur beim DATEV magazin

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