Technologien - 23. Juni 2022

Wechsel der Perspektive

Augmented und Virtual Reality halten viele für eine technische Spielerei, wenn nicht überhaupt für eine Domäne der Gamer-Szene. Weit gefehlt! Auch DATEV macht sich diese Technik zunutze.

Um zu verstehen, wovon hier die Rede sein wird, müssen wir uns zunächst trennscharf über die bei­den Begriffe klar werden. Virtual Reality (VR) ist eine Simu­lation mittels einer stereoskopischen Datenbrille, die den Nutzer von der realen Welt um ihn herum abschirmt und ihn in eine komplett künstliche, dreidimensionale Umgebung versetzt, die, je nach weiterer Ausstattung, auch gehört und mit zusätzlichen Sinnesqualitäten angereichert werden kann. Innerhalb dieser kann er sich nun umschauen, kann sich bewegen und erhält dabei in Echtzeit dank einer 360-Grad-Abbildung seiner virtuellen Umgebung jederzeit einen realistischen Eindruck dieser künstlichen Welt. Be­wegt er seinen Kopf oder geht herum, verändern Lagesenso­ren entsprechend die 3-D-Projektion in seiner Datenbrille, sodass in jedem Moment ein möglichst realistisches Bild seiner vermeintlichen Umgebung entsteht – eine Illusion von frappierender Sogwirkung. Dass diese Technik gewalti­ge Rechenleistungen erfordert, wenn die Kunstwelt detail­reich und realistisch wirken soll, liegt auf der Hand. Ebenso, dass sie geradezu prädestiniert ist, Computerspiel und Un­terhaltung zu revolutionieren. Kombiniert mit weiteren Sin­neseindrücken, etwa einer Achterbahnfahrt, kann diese bei­spielsweise zu einer Art Flugerlebnis gesteigert werden, bei dem man sich eben nicht in einem Film befindet, sondern sich während der Fahrt in der virtuellen Umgebung völlig frei umschauen kann.

Mehr als ein Spiel

In der Arbeitswelt sind es Übungs- und Vorbereitungssituati­onen, in denen VR-Brillen zum Einsatz kommen. So können beispielsweise Schwindelfreiheit oder Trittsicherheit bei Ar­beiten in großer Höhe trainiert werden, etwa an Windkraftan­lagen. Eine gefühlte Absturzgefahr, realistisch simuliert, er­zielt den gleichen Adrenalinausstoß, den gleichen Stress für den Gleichgewichtssinn und die gleichen Lerneffekte wie eine echte – nur eben ohne objektive Gefahr. Weitere Anwen­dungen finden sich beispielsweise in der Automobilindustrie, der Medizintechnik, im Tourismusbereich, bei der Immobili­envermarktung und in neuartigen Konfiguratoren. Augmented Reality (AR) ist insofern das genaue Gegenteil von VR, als sie die Wirklichkeit nicht ausblendet, sondern – genau umgekehrt – deren Wahrnehmung und Interpretation mit digitalen Helfern unterstützt. Eine AR-Anwendung benö­tigt eine Kamera, beispielsweise die des Smartphones. Rich­tet man diese nun auf bestimmte Objekte, Ensembles oder sonstige wiedererkennbare Objektkonstellationen, erhält man ergänzende Informationen, die eingeblendet werden, etwa zu den Ausstellungsstücken in einem Museum. Eine kostenlose AR-Anwendung von beeindruckender Leistung ist beispielsweise Google Lens. Wer etwa am Wegesrand eine unbekannte Blume erspäht, muss sie nur mit der Kamera sei­nes Smartphones in den Blick nehmen und bekommt sofort deren botanische Bestimmung geliefert.

Ein Auge – viele Zuschauer

Eine besondere Ausprägung der Augmented Reality spielt künftig bei DATEV eine Rolle und nicht nur hier, denn sie tritt gerade ihren Siegeszug in der Wartungstechnik und im Bauwesen an. Die Rede ist von der Kombination einer speziellen AR-Brille mit Videokonferenz­systemen. Die Brille verfügt über eine Ka­mera, die genau das sieht, was deren Trä­ger gerade sieht. Zusätzlich können die­sem aber Informationen in sein Sichtfeld einprojiziert werden, ähnlich den Head-up-Displays moderner Autos, die dem Fah­rer Geschwindigkeit, Navi-Informationen und anderes als transparentes Bild in die Frontscheibe ein­spiegeln. Das Besondere ist nun, dass das ganze System gleichzeitige WLAN-Telefonie zulässt und das Bild nun – etwa via MS Teams – über das Internet an korrespondierende Ge­sprächspartnerinnen und -partner überträgt, mit denen nicht nur zeitgleich geredet werden kann, sondern die auch opti­sche Markierungen oder Hinweise setzen können, die wieder­um der Brillenträger als Hinweis eingeblendet bekommt. Die Teilnehmer können folglich aktiv Anteil nehmen an dem, was durch das System visuell übertragen wird.

Kleine Revolution mit großer Wirkung

Und damit wird auch verständlich, warum diese Technik die Wartung von Maschinen, technischen Objekten, die Inspekti­on von Bauteilen und Objektzuständen und vieles andere noch revolutionieren wird: Sie macht es in vielen Fällen entbehrlich, dass ein Experte (Bausachverständiger, Ingenieur, Gutach­ter … – hier sind viele Anwendungen denkbar) zur Beurteilung oder Problembehebung persönlich erscheint. In vielen Fällen wird es genügen, einen Techniker in einem Servicefall durch einen Experten oder auch ein Gremium von Fachleuten in ei­ner Konferenzschaltung virtuell und live zu begleiten und ihn remote anzuleiten, während er manuell an dem Problem arbei­tet. Mehrere Apps, die diesen Vorgang unterstützen, sind in der zugrunde liegenden Software bereits angelegt. So können aus der aktuellen Session heraus beispielsweise jederzeit Screenshots gezogen werden. Auf diesen lassen sich Markie­rungen und Hinweise anbringen und an den Techniker vor Ort zur Unterstützung zurückspielen – weitere Funktionen, weite­re Apps kommen ständig hinzu.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Reisetätigkeit von Spezi­alisten kann kostensparend reduziert werden, wenn es mög­lich ist, die Perspektive des Technikers eins zu eins zu teilen und ihn anzuleiten.

Erste Erfahrungen

Eine erste Brille hat DATEV bereits in Betrieb, die sich auch bei ersten Serviceeinsätzen schon bewährt hat – etwa an der Kühlanlage der Niederlassung in Kassel oder auf der Baustel­le unserer Niederlassung am Sophienblatt in Kiel. Weitere Geräte werden folgen. Was bei alldem nie aus dem Blick geraten darf, sind die Wahrung von Datenschutz und Informationssicherheit. So verfügt die Datenbrille über keine eigene SIM-Karte und kann nur über sicheres WLAN betrie­ben werden. Wartungseinsätze in hoch­sensiblen Bereichen wie im Rechenzent­rum sind gleichwohl tabu, weil detaillierte Bilder über die genaue Hardware-Konstel­lation unserer IT aus Sicherheitsgründen prinzipiell nicht über das Internet übertragen werden dürfen. Ein ausgeklügeltes Berechtigungskonzept stellt sicher, dass nur ausgewähltes und speziell geschultes Personal Zugang zu dieser Technik erhält. Ein weiterer Punkt ist die Wahrung sämtlicher Rechte derer, die bei der Arbeit mit der Datenbrille eventuell zufällig durchs Bild laufen, da deren Bilder ja über das Netz weitergeleitet werden, ohne dass sie eine Kontrolle haben, wohin und an wen sie gehen. Weiterhin werden keine Aufzeichnungen der Videostreams gemacht – beziehungswei­se wenn doch, dann nur mit expliziter Genehmigung aller Umstehenden, die womöglich im Bild zu sehen sein würden. Die frühzeitige Einbindung von Datenschutz und Rechtsabtei­lung bei der Einführung dieser Technik erweist sich als äu­ßerst sinnvoll, federt Reaktanzen ab, beschert Rechtssicher­heit und erleichtert auch die Konsensfindung der Be­triebspartner – ein Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist.

Von dieser Technik, die ja noch am Anfang steht, werden Wartung und Facility-Management nicht nur von DATEV, sondern vieler Branchen noch viel erwarten dürfen – viel­leicht eine kleine Revolution mit großer Wirkung.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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