Geschichte des Kerbholzes - 29. April 2021

Von Schuldnern und Gläubigern

Schuldschein, Steuerquittung, Wertpapier oder Arbeitsnachweis – in der Finanzgeschichte spielt das Kerbholz eine so unscheinbare wie vielfältige Rolle. Heutzutage begegnet es uns nur noch in Form von Redewendungen und in eingeschränkter Funktion in seiner modernen Entsprechung, dem Bierdeckel.

„Das kommt nicht aufs Kerbholz. Ich gebs gern. Gute Verrichtung, meine Herren!“, entgegnet eine Händlerin in Friedrich Schillers Drama Wallensteins Lager den trinkenden Soldaten. Was hier passiert, versteht jeder, der schon einmal einen Abend in einer Kneipe verbracht und am Ende der Bedienung seinen Bierdeckel gereicht hat. Auch kennt man den Ausdruck „etwas auf dem Kerbholz haben“. Meist denkt man gar nicht weiter darüber nach, wo der Ursprung solcher Begriffe und Sprichwörter liegt. Tatsächlich haben die meisten Redewendungen eine lange Geschichte, die nicht selten bis in das Mittelalter zurückreicht. Auch das oben genannte Kerbholz ist ein Gegenstand, der sich über die Jahrhunderte hinweg in unseren Sprachgebrauch eingeschlichen hat. Was genau meint die Händlerin in Schillers Werk also mit dem Kerbholz?

Schon im Mittelhochdeutschen finden sich Worte wie kerbholz oder kerbstock. Gemeint ist damit ein hölzerner Stock oder ein längliches Brettchen. Hierein wurden Kerben, Symbole oder eine Kombination grafischer Zeichen geritzt, eingebrannt oder auch aufgemalt. Die so hergestellte Holzurkunde – auch Charta partita oder Chirographum genannt – wurde anschließend längs gespalten und unter den beteiligten zwei Parteien aufgeteilt. Sinn und Zweck des Ganzen war dabei die verbindliche Festsetzung eines mündlichen Vertrags zwischen einem Gläubiger und einem Schuldner. Da beide Parteien ihren Teil des Kerbstocks bei sich aufbewahrten, war der Vertrag fälschungssicher. Jede nachträgliche Veränderung wurde offenbar, wenn die beiden Hälften aneinandergehalten wurden. Und da sich die Beschriftung auf wenige primitive Symbole beschränkte, konnte die Urkunde sowohl von Schriftkundigen als auch von Analphabeten gleichermaßen verstanden werden.

Die ältesten Schriftstücke, die die Existenz von Kerbhölzern belegen, stammen aus dem England des 11. Jahrhunderts. In Mitteleuropa und dem deutschsprachigen Raum begann die sprachliche Überlieferung erst drei Jahrhunderte später. Generell kam das Zählholz – wie es ebenfalls genannt wurde – meist bei Kleinschulden zum Einsatz, also bei Wirten oder Handwerkern, bei Dienstleistungen (Frondiensten) oder bei öffentlichen Abgaben (Steuern und Strafgeldern). Es gab allerdings Unterschiede in der Nutzung zwischen Stadt und Land. Während auf dem Land besonders die lokale Gemeindeverwaltung bei der Eintreibung von Steuern und Renten vom Kerbholz Gebrauch machte, nutzten Städter es hauptsächlich im Kreditkauf (Kleidung, Nahrung oder auch Kleinkredite).

Archäologen gelang bei Ausgrabungen in Wittenberg 2011/2012 ein äußerst seltener Fund: Bei der Aufdeckung eines Latrinenschachts fiel ihnen ein zunächst unscheinbares Holzstück in die Hände, welches sich nach genaueren Untersuchungen als ein frühneuzeitliches Kerbholz entpuppte. Das gefundene Stöckchen ist 21,5 Zentimeter lang und ein bis zwei Zentimeter breit. Es stammt vermutlich aus dem Jahr 1558. Auf der Oberfläche kann man 23 eingeritzte Kerben erkennen. Diese stehen vermutlich für eine Kreditsumme von 23 Gulden. Zur damaligen Zeit war das eine bedeutende Summe, hätte doch damit die Steuer für ein Grundstück in Wittenberg ganze elfeinhalb Jahre beglichen werden können. Es wird vermutet, dass das Kerbholz in diesem Fall ein Kreditgeschäft beurkundete – ob zwischen zwei Bürgern oder zwei Städten, lässt sich aus dem Latrinenfund nicht mehr rekonstruieren.

Während man lange Zeit noch ausschließlich sehr wörtlich „etwas auf dem Kerbholz“ haben konnte, erhielt das Kerbholz in der Reformationszeit zunehmend sprichwörtlichen Charakter. Es wurde nicht mehr nur vor dem ökonomischen, sondern vor einem moralischen Hintergrund gesehen. Schließlich konnte man nicht nur ökonomische, sondern auch moralische Verbindlichkeiten eingehen. In diesem Sinne und über das Schuldverhältnis hinausgehend wurde die Redewendung auch dafür genutzt, jemanden für seine oder ihre Verbrechen anzuprangern. Gleichzeitig erweiterte sich die Bandbreite, in der Kerbhölzer Verwendung fanden. Im 17. Jahrhundert wurde das Kerbholz Bestandteil juristischer Geschäfte und erhielt eine Bedeutung als Rechtsmittel, vergleichbar mit dem Status einer Urkunde. Nach und nach wich der hölzerne Vertrag jedoch der Schrift- und Rechenpraktik auf Papier. Im Zeitalter der Aufklärung wurde – mit dem Anstieg der Alphabetisierung – das Kerbholz dann als primitiv und rückständig herabgestuft. Das Kerbholz galt nun als typisches Mittel der Analphabeten. Trotzdem kann sich sein vielfältiger Einsatz und Gebrauch bis ins 20. Jahrhundert verfolgen lassen. Tagelöhner in der Landwirtschaft beispielsweise wiesen noch in den 1920er-Jahren ihre abgeleisteten Arbeitsstunden mit Kerbhölzern nach oder verbrieften so die Anzahl der beim Bauern abgelieferten Feldfrüchte während der Ernte. Trotz des Verlusts seiner eigentlichen Funktion als Schulddokument bleibt uns das Kerbholz in sprichwörtlicher Überlieferung erhalten. Auch der modellierte Einsatz des Kerbholzprinzips, wie das genannte Anschreiben der Wirtshauszeche, trägt zum Fortbestand der einstigen Holzurkunde bei. Und sollte es entgegen aller Erwartungen doch noch zur Steuererklärung auf dem Bierdeckel kommen, hätten wir auch endlich wieder die Möglichkeit, mehr als nur Getränke auf dem Kerbholz zu haben.

Mehr dazu

Rode, Holger: Ein frühneuzeitliches Kerbholz aus der Altstadt von Wittenberg, in: Tausch- und Geldkulturen in Europa, hrsg. von Rüdiger Fikentscher, Halle 2018

Zu den Autoren

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Anna Pezold

Neumann & Kamp Historische Projekte

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