Wissen von DATEV - 24. November 2022

Vom Umgang mit Wissen

Weiterbildungen, Fachdatenbanken und Bücher für steuerliche Berater sind zahlreich auf dem Markt. Dabei kennt niemand die Anforderungen an Wissen und Kompetenz im Arbeitsalltag besser als Ihre Genossenschaft. Ein Überblick über das DATEV-Wissen.

Ein ritter sô gelêret was / daz er an den buochen las / swaz er dar an geschriben vant: / der was Hartman genant …“ Mit diesen Worten beginnt „Der arme Heinrich“, eine Verserzählung von Hartmann von Aue, einem der bedeutendsten Epiker der mittelhochdeutschen Klassik, geschrieben in den 1190er-Jahren. Er verweist mit diesem Auftakt nicht ohne Stolz auf seine eigene Gelehrsamkeit, die sich darin ausdrückt, dass er als Ritter lesen und schreiben kann. Im Hochmittelalter war dies auch in den gehobenen Ständen, zu denen der Autor sich zählt, die Ausnahme. Zum Erziehungsprogramm, den zu vermittelnden Tugenden und Fähigkeiten von Adel und Ritterschaft gehörte allerhand Militärisches, Jagdkundliches sowie ein höfisches Benimmreglement, die Kunst des Lesens gehörte nicht dazu. Auch die Könige und Kaiser des Reichs waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, durchweg Analphabeten, und es genügte, wenn sie auf den Urkunden, die ihre stets mit Geistlichen besetzten Kanzleien ausfertigten, zum Zeichen der Authentizität den sogenannten Vollziehungsstrich eigenhändig einfügten, einen einzigen Strich im Monogramm – das musste genügen.

Nichts ist kostbarer als die Schrift

Die Worte von Hartmann verweisen indes noch auf ein Zweites: Er las „an den buochen“, womit er auf den Umstand referiert, dass man stehend an einem Pult las, an dem das jeweilige Buch zudem oft angekettet war, auf dass es nicht verschwinde. Denn Bücher waren vor Erfindung des Buchdrucks außerordentlich kostbar. Das verschriftlichte und damit nach den Maßstäben der Zeit verlässlich tradierbare Wissen – es war im Mittelalter fest in der Hand des Klerus. Die Klöster beherbergten die Bibliotheken und pflegten die Wissenschaften, auch wenn nach und nach in den Reichsstädten im gehobenen Bürgertum ein Schulwesen Einzug hielt. Es ist kaum vorstellbar, doch es sollte tatsächlich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dauern, bis jener Alphabetisierungsgrad wieder erreicht war, der in der Antike selbstverständlich war. Denn das Römische Reich kannte ein mehrgliedriges Schulwesen, das nicht nur privilegierten Schichten offenstand. Auch Sklave und Landmann konnten in der Antike lesen, wenn sie es denn lernen wollten – ein Bildungsstand, der mehr als tausend Jahre lang nicht mehr erreicht wurde.

Die Fragmentierung des Wissens

Die Vorstellung, worauf sich eigentlich erstreckt, was als überindividuelles Wissen tradierungs- und fortentwicklungswürdig ist, spiegelt sich im Kanon der sieben freien Künste (Artes liberales) wider – ein seit der Spätantike gültiges Konzept, das traditionell mit der einem freien Mann ziemenden Bildung gleichzusetzen ist. Sie bestehen aus dem Trivium, einer Art Propädeutik aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, die den Anwärter diskursfähig machen und befähigen sollte, sich mit dem Quadrivium, den eher mathematischen Fächern, zu befassen: der Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. An den mittelalterlichen Universitäten, deren älteste 1088 in Bologna gegründet wurde, galten die Artes liberales wiederum als eine Art Studium generale und zugleich als Vorbereitung auf die Fakultäten Theologie, Jurisprudenz und Medizin, jene Fächer, von denen Goethes Faust in seinen ersten Worten freilich beklagt, dass er auch nach deren heiß bemühtem Studium „so klug als wie zuvor“ sei.

Demokratisierung anno 1522

Dies ging so bis zu einem Durchbruch, der zusammen mit der Erfindung Gutenbergs den Epochenwandel zur Neuzeit markiert: die Bibelübersetzung Martin Luthers, die vor recht genau 500 Jahren im September 1522 erschien. Uns Heutigen, die wir in einem säkularisierten Zeitalter leben, sind der Ereignischarakter und die Bedeutsamkeit dieser Publikation nur noch schwer zu vermitteln, doch es handelte sich dabei um einen ungeheuerlichen Akt der Demokratisierung von Herrschaftswissen, der erstmaligen Bemündigung des Kirchenvolks und damit um einen Angriff auf die Deutungshoheit einer klerikalen Bildungselite. Von nun an genügte es, der deutschen Sprache und des Lesens mächtig zu sein, um das Buch zu verstehen, aus dem nach den Vorstellungen der Zeit ein Gutteil der menschlichen Ordnung abgeleitet wurde. Die dadurch vollzogene Entmachtung des Intermediärs war ein Akt der Rebellion. Hinzu trat, dass Luther mit seiner Übersetzung nach Orthografie und Grammatik den entscheidenden Beitrag zur Entwicklung des Frühneuhochdeutschen und damit zur überregionalen Verständigung aller Sprachteilhaber untereinander geleistet hat. Ohne die Übersetzung von 1522 würden wir heute anders sprechen und schreiben, als wir es tun. So betrachtet, war das Management des Wissens über die Jahrhunderte in erster Linie zugleich Aufgabe und Akt seiner Verbreitung, des Zugänglichmachens durch Herabsetzung der Hürden zu seiner Erlangung. Es gibt hierfür keine passende Kategorie, aber verdient hätte einen Nobelpreis ganz gewiss Wikipedia, das Großprojekt, das in 300 Sprachen und 58 Millionen Artikeln das Weltwissen jedermann an jedem Ort der Welt zugänglich macht. Das Gesamtwissen der Menschheit verdoppelt sich im Übrigen circa alle 15 Jahre; allein 2019 wurden weltweit etwa 2,5 Millionen naturwissenschaftlich-technische Studien veröffentlicht. Schätzungen zufolge belegt die Speicherung des gesamten Wissens unserer Spezies etwa 600 Millionen Terabyte. Zum Schutz vor Verlust im Falle planetarer Katastrophen wurde 2019 bereits ein 30 Millionen Seiten umfassendes Archiv, optoelektronisch codiert, auf den Mond ausgelagert. 2025 soll eine weitere Wissenskapsel in einen stabilen Mars-Orbit einschwenken und 2027 soll eine weitere Bibliothek am Lagrange-Punkt, wo sich die Schwerkraft von Sonne und Erde gegenseitig aufheben, dauerhaft geparkt werden.

Und heute?

Die Frage, wer berechtigt ist, über ein bestimmtes Wissen zu verfügen, hat sich jedenfalls längst aus der Sphäre des Religiösen, der zu erklärenden Weltordnung und anderer, das Seelenheil berührender Zusammenhänge verabschiedet und sich in den höchst profanen Bereich der Ökonomie und den Bereich der informationellen Selbstbestimmung verlagert. Wissen wird so nach einer langen Phase seiner Demokratisierung in einer nunmehr digitalisierten Welt globalen Wettbewerbs neuerlich zu einem höchst schützenswerten Gut. Dennoch ist die Summe dessen, was wir können, weit mehr als bloßes Wissen. Unsere Fähigkeiten sind Fixsterne. Intelligenz bildet ihre Gravitationszentren. In Gestalt von Kompetenz erstrahlen sie und erhellen den Aktionsradius unserer Produktivität. Kenntnisse hingegen sind die sie umlaufenden Planeten. Die Merkfähigkeit behält sie. Doch ohne die sinnstiftende Einbettung in das Zusammenspiel sich ergänzender Fähigkeiten wären sie unbelebtes Material, eine Sammlung bloßer Fakten auf einer Festplatte, die ihre Bedeutung erst im Zusammenhang erlangen können. Ein tröstlicher Gedanke angesichts der Unmenge des Wissbaren, an dem wir als Individuum nur einen mikroskopisch kleinen Anteil haben.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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