Made in Germany - 28. Januar 2021

Vom Stigma zum Qualitätssiegel

Die Entstehungsgeschichte eines weltberühmten Labels im ausgehenden 19. Jahrhundert ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich ein ursprünglich als Kampfmittel gegen einen wirtschaftlichen Konkurrenten gedachtes Gesetz ins völlige Gegenteil verkehren kann – und dem ungeliebten Adressaten am Ende sogar noch zu ungeahntem Vorteil gereicht.

Der englische Staatsmann Archibald Philip Primrose ließ 1896 seine Landsleute voller Sorge wissen: „Deutschland macht mir Angst.“ Der fünfte Earl of Rosebery – ein Erbadelstitel, der dem Vereinigten Königreich in jenen Jahren neben anderen führenden Funktionen auch als Außen- und Premierminister diente, zeigte sich tief beeindruckt von dem Fleiß, der Systematik, der Perfektion sowie der Wissenschaftlichkeit der Deutschen, die ihm offenbar auch große Bewunderung und Wertschätzung abtrotzten. Und bereits zu diesem Zeitpunkt sah er sein Land wirtschaftlich hinter dem von vielen Briten so empfundenen Emporkömmling Deutschland zurückfallen. Für das Empire, das seinerzeit zusammen mit allen Kolonien und Protektoraten über rund ein Viertel der Landfläche unserer Erde herrschte, war dies ein schier unerträglicher Zustand.

Was war da geschehen?

Nach seiner Reichsgründung im Jahr 1871 erlebte Deutschland einen atemberaubenden wirtschaftlichen Aufschwung und verwandelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von einem weitgehenden Agrarstaat zu einem bedeutsamen Industriestandort von Weltrang. Die Schwerpunkte bildeten seinerzeit die Eisenindustrie, der Bergbau, der Eisenbahnbau und in Teilen die Textilindustrie. Dies führte übrigens auch zu einem Wandel der gesellschaftlichen Strukturen innerhalb Deutschlands, mit Wanderbewegungen weg vom ländlichen Raum hin zu den Städten sowie der Bildung von sozialen und marktbedingten Gesellschaftsschichten. Zwischen den Jahren 1871 und 1914 versechsfachte sich die industrielle Produktion, die Exporte wuchsen um das Vierfache. Dies führte dazu, dass das Deutsche Reich als Wirtschaftsmacht das bis dahin führende Großbritannien überrundete und noch weit vor Beginn des Ersten Weltkriegs zur stärksten Industrienation Europas avancierte – weltweit auf Platz zwei hinter den Vereinigten Staaten von Amerika.

Ein Dorn im Auge der Briten

Mit diesem ökonomischen Eifer machte sich das Deutsche Reich in Europa freilich nicht nur Freunde. Insbesondere dem Königreich war diese Entwicklung ein Dorn im Auge. Es sah sich bereits in den 1870er- und 1880er-Jahren von billigen und angeblich minderwertigen Waren aus dem Ausland überschwemmt, darunter auch und gerade Produkte aus Deutschland. Sogar von einem drohenden wirtschaftlichen Niedergang war auf der Insel die Rede. Führende englische Hersteller sahen sich in ihrer Existenz bedroht, allen voran etwa die damals einflussreichen Produzenten von Schneidwaren in Sheffield (Messer, Scheren, Feilen oder Rasierklingen), die sich mit zahlreichen Plagiaten aus Deutschland – genauer gesagt: aus der Klingenstadt Solingen – herumärgern mussten. Gewisse Assoziationen zum heutigen China, das in den letzten Jahrzehnten mit Kopieren und Imitieren agiert hat und heute teils noch tut, sind da durchaus erlaubt.

Der Merchandise Marks Act

Zunächst wurde in der englischen Regierung noch über Schutzzölle nachgedacht, die jedoch dem Königreich als große Exportnation am Ende ebenfalls geschadet hätten und daher verworfen wurden. Am 23. August 1887 verabschiedete das britische Parlament schließlich den sogenannten Merchandise Marks Act. Er hatte im Kern zur Folge, dass alle für den Export nach England bestimmten ausländischen Produkte mit einem Hinweis auf das jeweilige Herkunftsland versehen sein mussten – made in Germany war geboren. Damit sollten alle ausländischen, insbesondere aber deutsche Produkte als minderwertig stigmatisiert und die englische Bevölkerung dazu motiviert werden, sich auf heimische Produkte zu besinnen. Eine begleitende Pressekampagne im Königreich sollte dieser Entwicklung zu noch größerem Erfolg verhelfen. Doch der Schuss ging nach hinten los.

Geburt des Patentschutzgesetzes

Denn die deutsche Wirtschaft sah sich durch dieses Gesetz in ihrem Image stark angekratzt. Und in der Tat hatten die Waren aus Deutschland noch in den 1870er- und 1880er-Jahren mit Blick auf die Qualität keinen allzu guten Ruf. Doch in der Folgezeit entwickelten sich aufgrund mehrerer Initiativen aus der deutschen Wirtschaft die Produkte aus dem Deutschen Reich zusehends in Richtung Qualitätsarbeit und hoher Standards. Einer der ersten wichtigen Schritte auf diesem Weg war zum Beispiel das bereits 1877 vom Reichstag angenommene Gesetz zum Schutz von geistigen Innovationen – kurzum: ein Patentschutzgesetz, das derart modern gestaltet war, dass es als Vorbild auch für andere Gesetzgebungen in Europa diente und sich in grundsätzlichen Teilen sogar noch heute im deutschen Patentgesetz wiederfindet. Staatliche Subventionen und eine starke Tendenz hin zu Schutzzöllen taten das ihre, um der deutschen Wirtschaft weiteren Vorschub zu leisten.

Solide und dennoch bezahlbare Qualitätsware

Um die Qualität ihrer Waren voranzubringen, unternahmen viele deutsche Hersteller zudem immense Anstrengungen in den Bereichen Forschung und Entwicklung. Ob mit Blick auf die Fertigungsverfahren, die verwendeten Materialien oder technische Innovationen – die deutschen Produkte verschwanden eben gerade nicht vom Markt, sondern eroberten sich ob ihrer Finesse sowie angemessenen Preisgestaltung und Zuverlässigkeit international weitere Käuferschichten – auch in England. Schon rund zehn Jahre nach dem Merchandise Marks Act war made in Germany längst kein Synonym mehr für billigen Ramsch, sondern für solide und dennoch bezahlbare Qualitätsware.

Werbung für die deutsche Wirtschaft

So erkannten die Briten bereits kurz vor der damaligen Jahrhundertwende mit einigem Schrecken, dass sie dem ziemlich ungeliebten Konkurrenten vom Festland mit diesem Gesetz in keinster Weise hatten wirklich schaden können. Im Gegenteil: Diese Agenda war ungewollt eine kostenlose Werbung für die deutsche Wirtschaft, die man sich für die damalige Zeit kaum hätte besser denken können. Ein ursprünglich als üble Brandmarkung gedachtes englisches Gesetzeswerk beflügelte die deutschen Hersteller und verhalf ihren Produkten zu unerwarteter Beliebtheit.

Absehbare Konflikte

Allerdings führte damals der beeindruckende wirtschaftliche Aufschwung des Deutschen Reichs, gepaart mit einem aggressiven Kampf um Absatzmärkte und Kolonien sowie mit militärischer Abenteuerlust und unüberlegten Weltmachtfantasien, zu durchaus absehbaren Konflikten mit anderen europäischen Industriestaaten. Das wenig später folgende, historische Jahrhundertereignis mit vielen Millionen Toten auf Europas Schlachtfeldern muss sicherlich niemandem gesondert in Erinnerung gerufen werden. Und dennoch: Aus dem einstigen Stigma wurde schließlich ein Qualitätssiegel, das bis in die heutigen Tage hinein seine Wirkung nicht verloren hat – wenn auch freilich in einem völlig neuen globalen Kontext.

Zum Autor

SH
Sieghard Hedwig

Freier Journalist in Treuchtlingen

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