Geschichte der Pleite - 26. November 2020

Sturz und Auferstehung

Finanzieller Ruin bedeutete zu allen Zeiten eine Katastrophe – doch in der Vergangenheit waren die Folgen ungleich schlimmer als heute.

Schon die Sprache meint es nicht gut mit dem Unglücklichen, dessen Geschäftsmodell gerade gescheitert, dessen Kreditlinie überschritten oder der – aus welchen Gründen auch immer – in die Zahlungsunfähigkeit gerutscht ist. Der „Bankrotteur“, der „Pleitier“, derjenige, der „machulle gemacht“ hat, darf in der Regel kaum auf die freundliche Anteilnahme seiner Mitwelt rechnen. Spott ist da Mindeste, dessen er gewärtig zu sein hat, leicht kommt dieser dem Nichtbetroffenen über die Lippen, und nicht selten schwingt dabei eine gewisse Häme mit, wenn Leute aus dem Villenviertel plötzlich vor dem Konkursrichter stehen. Keiner hat die allfällige Schadenfreude treffender auf den Punkt gebracht als Wilhelm Busch: „‚Ist fatal!‘ – bemerkte Schlich –. ‚Hehe! Aber nicht für mich!‘“

Der Grund für diese wenig anständige Haltung ist ein doppelter: Da schwingt zum einen die Annahme individueller Schuldhaftigkeit mit, Pate steht die Vorstellung von einem Spieler, der sich verzockt, der sein Blatt überreizt hat und nun gerechterweise ausbaden muss, was er sich durch seine eigene Gier letztlich selbst eingebrockt hat. Zum anderen haftet Zahlungsunfähigen oft ein genereller Betrugsverdacht an, bei dem die Insolvenzverschleppung noch dessen weniger inkriminierende Variante darstellt. Ist der Pleitier tatsächlich so pleite wie er zu sein vorgibt? Oder hat er vor seinem Offenbarungseid womöglich listenreich Vermögenswerte beiseitegeschafft, um sie dem Zugriff der Gläubiger zu entziehen?

Dieses Misstrauen kommt nicht von ungefähr, ist doch der Fahndungsdruck von Amts wegen beim Aufspüren verborgener Werte bekanntlich eher gering. Der Gläubiger erwirkt zwar einen Vollstreckungstitel, aber den Gerichtsvollzieher auf die Suche nach Pfändbarem zu schicken, kostet erst einmal Geld, bevor es etwas einbringt – bei ohnehin ungewissem Ausgang der Expedition. Effizienter ist da unter Umständen ein Hausbesuch anderer Art. Gewisse Herren, untersetzt, muskulös, mit Glatze und Akzent sind darauf spezialisiert, Schuldner unmissverständlich an ihre Obliegenheiten zu erinnern. Aber solche, in gewissen Milieus verbreitete Usancen zur Eintreibung von Außenständen verbieten sich natürlich.

Flucht als letzte Rettung

Interessant ist übrigens die Herkunft des Wortes Pleite. Zugrunde liegt das jiddische Plejte, das eigentlich Flucht bedeutet, und das auf das hebräische ‚peleta‘ zurückgeht: Flucht, Entkommen, Entrinnen aus einer Notlage. Auch der sprichwörtliche Pleitegeier, von dem wir uns landläufig vorstellen, es handle sich dabei um den gefiederten Aasfresser, der über einem todgeweihten Unternehmen schon mal seine Kreise zieht, ist eine volksetymologische Umdeutung. Es handelt sich eigentlich und ursprünglich um den „Pleite-Geher“ selbst, den auf der Flucht vor seinen Gläubigern befindlichen Bankrotteur.

Die Neigung, sich nicht begleichbaren Schulden durch Flucht zu entziehen, ist, wie der sprachgeschichtliche Verweis zeigt, offenbar sehr alt und durchaus verständlich, führte diese Situation in der Antike doch geradewegs in die Sklaverei. Immerhin verfügte eine der ältesten Rechtsquellen der Menschheit, der mesopotamische Codex Hammurabi, dass zumindest die Frauen und Kinder der in Knechtschaft Geratenen nach drei Jahren in die Freiheit zu entlassen seien. Griechen, Römer, Germanen und Gallier hingegen waren da weniger zimperlich: Zahlungsunfähige Schuldner wurden zunächst mit Hab und Gut und mitsamt der Familie den Gläubigern als Sklaven zugesprochen.

Später ging man dazu über, die Unglücklichen auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen und dem Gläubiger lediglich deren Erlös zu überlassen, ein zivilisatorischer Fortschritt, insofern dies es den Schuldnern ersparte, von rachsüchtigen Gläubigern ganz unmittelbar drangsaliert zu werden. Das Mittelalter kannte die Obnoxiation, die Schuldknechtschaft, die sich formal zwar von der Sklaverei unterschied, weil der Schuldner dem Gläubiger lediglich seine Arbeitskraft als Sicherheit verpfändete. Da aber bei entsprechender Höhe der Schuld keine Chance bestand, das Joch der Knechtschaft jemals wieder abzuschütteln, kam dieser Status dem eines Sklaven doch recht nahe. Allerdings blieb die Familie des Schuldknechts unangetastet, insofern also doch bei allem Missgeschick ein Zustand, der dem eines Sklaven vorzuziehen war.

Spätmittelalter und frühe Neuzeit schließlich kannten die Schuldhaft, für die es in den größeren Städten des Reichs eigene Schuldgefängnisse gab. Auch hierin erkennen wir einen Fortschritt, denn der Schuldner sollte durch seine erzwungene Haft nicht etwa sanktioniert werden, sondern war in der Regel Freigänger, vergleichbar einem Insassen des offenen Vollzugs unserer Tage. Er konnte und sollte tagsüber seinen Geschäften nachgehen und Geld verdienen, um seine Schuld abzutragen. Die Einbuße an Bequemlichkeit durch das nächtliche Zwangsquartier im Schuldturm war dabei freilich das kleinste Übel, entscheidend war das öffentliche Stigma, die Schande, die ihn traf und von der sich der Betroffene zumindest in geschäftlicher Hinsicht kaum je erholen konnte. Der Gesichtsverlust als unvermeidliche Begleiterscheinung des wirtschaftlichen Ruins – manch einer sah da nur den Freitod als Ausweg. Hans de Witte, flandrischer Calvinist und Finanzier, verknüpfte auf fatale Weise sein eigenes Schicksal mit dem des böhmischen Feldherrn und kaiserlichen Generalissimus Eusebius von Wallenstein. Dessen Feldzüge im Dreißigjährigen Krieg finanzierte er mit viel Geschick, freilich auch mit halsbrecherischen Krediten, für deren Rückzahlung er letztlich mit seinem Namen bürgte. Das ganze, auf schwankendem Fuße stehende Unternehmen kollabierte schließlich mit Wallensteins Entlassung aus dem kaiserlichen Dienst am 6. September 1630 – und besiegelte damit  sein eigenes Schicksal. Im August bereits zahlungsunfähig geworden und nun jeder Chance beraubt, die Schulden jemals zu begleichen, stürzte er sich fünf Tage später in den Brunnen seines Hauses in Prag.

Später Sieg der Humanität

Ganz anders hingegen Georg Friedrich Händel, der 1737 und damit gut ein Jahrhundert später mit seinem Londoner Opernunternehmen an Intrigen und einem sich sehr plötzlich wandelnden Publikumsgeschmack gescheitert war. Ein Schlaganfall trat hinzu, Händel schien finanziell und gesundheitlich am Ende. Doch er kämpfte sich wieder ins Leben und kehrte fünf Jahre später mit dem Oratorium Der Messias triumphal zurück. Den Erlös der Uraufführung am 13. April 1742 spendete er – bezeichnenderweise den Insassen des Schuldgefängnisses in Dublin.

Einem Bankier verzeiht die Geschichte offenbar weniger als einem Komponisten, und auch heute sind die wirklich spektakulären Zusammenbrüche diejenigen von Finanzinstituten, die damit unzählige Anleger mit in den Ruin reißen. Die größte Pleite der gesamten Wirtschaftsgeschichte: 2008 der Kollaps von Lehman Brothers – Schaden 691 Milliarden US-Dollar. Im selben Jahr der Crash von Washington Mutual – Schaden 328 Milliarden US-Dollar, Bank of New England – 30 Milliarden. Thornburg Mortgage, General Growth Properties, New Century Financial Corp. – Gesamtschaden 92 Milliarden US-Dollar – allesamt Unternehmen, die fremdes Vermögen verwalteten; die Liste ließe sich fortsetzen. Der eigentliche geschichtliche Fortschritt, der hierzulande im Umgang mit finanziellen Katastrophen zu verzeichnen ist,  besteht darin, dass die Akteure nicht mehr um Leib und Leben fürchten müssen, vor allem aber darin, dass die Abwicklung eines Zusammenbruchs nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen wird, sondern ein geordnetes Insolvenzverfahren die Folgen für die Gläubiger wie auch die Mitarbeiter des zahlungsunfähigen Unternehmens abzufedern sucht. Letzteres ist Ausdruck einer Humanität, um die frühere Zeiten uns Heutige nur hätten beneiden können. Zivilisatorischer Fortschritt, zweifellos stets gefährdet, hier ist er gottlob einmal sichtbar.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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