Der griechische Philosoph Sokrates ist eine der zentralen Gestalten der abendländischen Philosophie. Er ist so bedeutend, dass die antiken Denker vor ihm heute pauschal als Vorsokratiker zusammengefasst werden. Auch sein Ende war legendär: 399 v. Chr. verurteilte ihn das Volksgericht in Athen wegen religiösen Frevels und schlechten Einflusses auf die Jugend zum Tode. Doch wie kam es dazu? War es ein Justizfehler, ein tragisches Fehlurteil?
Schriften selbst hat Sokrates keine hinterlassen. Alles, was wir über ihn und seine Lehre wissen, stammt aus der Hand seiner Schüler. Wie sein Vater war er Steinmetz, gab seinen Beruf aber auf, um sich gänzlich der Philosophie zu widmen. Auf dem Marktplatz von Athen unterrichtete er vor allem junge Männer in Philosophie. Geld nahm er dafür nicht. Äußerlich erschien er wie ein Bettler, ging immer barfuß und trug einen einfachen Mantel. Athen hat er in seinem Leben nur selten verlassen.
Berüchtigt war Sokrates für seine zielgerichteten Fragen, die dazu führen sollten, dass sein Gegenüber falsche Annahmen im Sinne der Selbsterkenntnis überdenkt. Sokrates verwickelte Athener aller Schichten in philosophische Gespräche. Das brachte ihm vor allem bei der Jugend Bewunderung ein, schuf ihm aber auch Gegner bei Athens Elite, die sich bloßgestellt fühlte. Und noch etwas musste vielen Athenern suspekt erscheinen: Sokrates behauptete, eine göttliche Stimme zu vernehmen, die ihn leiten würde – das Daimonion. Eine für das antike Griechenland fremde Vorstellung, denn der Kontakt zu den Göttern wurde einzig von Priestern und Sehern hergestellt. Das brachte Sokrates schließlich vor Gericht.
Die Anklage lautete, dass Sokrates nicht an die in Athen verehrten Götter glaube, sondern stattdessen neuartige Wesen einführe. Zudem verderbe er die Jugend. Der Philosoph widersprach: Er habe der Jugend nicht geschadet, sondern sie verbessert. Sein Wirken bezeichnete er als göttlichen Auftrag durch Apollon, das er im Falle eines Freispruchs fortführen werde. Von den 501 durch das Los bestimmten Richtern erachtete eine knappe Mehrheit Sokrates für schuldig, die Todesstrafe drohte. Im attischen Rechtssystem legte aber nicht das Gericht die Strafe fest, sondern Kläger und Angeklagter brachten jeweils einen Vorschlag ein. Darüber wurde dann in einer weiteren Abstimmung entschieden. Normalerweise setzte sich der Angeklagte für eine mildere Strafe als die Todesstrafe ein, zum Beispiel für den Gang ins Exil. Sokrates aber machte keinen sinnvollen Gegenvorschlag. Dies kostete ihn Sympathien: Eine deutliche Mehrheit stimmte für seinen Tod. Sokrates verbrachte 30 Tage in Haft, ehe er durch den berüchtigten Schierlingsbecher starb. Seine Freunde hatten ihn immer wieder zur Flucht bewegen wollen – vergeblich. Sokrates akzeptierte das Urteil und trank das tödliche Gift.
Sokrates übte seinen Einfluss abseits der bestehenden Institutionen auf den Straßen und Plätzen Athens aus.
War der Prozess gegen Sokrates tatsächlich nur wegen eines religiösen Sachverhalts geführt worden? Hierbei sind die politischen Hintergründe wichtig: In den Jahren 404/403 v. Chr., also rund vier Jahre vor dem Prozess gegen Sokrates, hatte eine Gruppe von Oligarchen das demokratische System gestürzt und die Herrschaft der Dreißig errichtet. Diese Terrorherrschaft währte zwar nur wenige Monate, hinterließ aber eine blutige Bilanz: Über tausend Menschen wurden ermordet, eine noch größere Zahl vertrieben und enteignet. Unter den Dreißig und deren Anhängern waren mit Kritias und Charmides auch zwei Schüler von Sokrates vertreten. Die Verurteilung des etwa 70 Jahre alten Sokrates fiel somit genau in die Jahre nach der Wiederherstellung der attischen Demokratie. Die Stimmung war gereizt: 401 v. Chr. war ein Versuch der Erneuerung der Oligarchie niedergeschlagen worden. Mögliche Feinde der Demokratie behielt man genau im Auge. Anytos, einer der drei Sokrates-Ankläger, war ein bedeutender Gegner der Herrschaft der Dreißig gewesen. Sokrates erschien als suspekte Gestalt, weil er sich nicht um Teilhabe an der Gemeinschaft bemühte, sich aber der Politik nicht enthielt. Seinen Einfluss übte er abseits der bestehenden Institutionen auf den Straßen und Plätzen Athens aus. Gute Politik, so glaubte er, könne nur betrieben werden, wenn der einzelne Mensch verbessert werde. Sokrates’ Handeln stellte quasi eine alternative Form politischer Betätigung dar und fand unter der Jugend der Athener Elite großen Anklang. Dies musste als Infragestellung des Systems und rückblickend als Befürwortung der Terrorherrschaft erscheinen. Zudem blieb Sokrates dem Gericht eine Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit Oligarchen schuldig. Auch wenn uns Sokrates heute in positivem Licht erscheint, den meisten Athenern blieb er damals wohl eher negativ im Gedächtnis. Das Urteil wurde auch später in Athen nicht als falsch angesehen. Soweit wir dies heute beurteilen können, handelte das Gericht gemäß den damals üblichen Regeln. Die Verteilung der Richterstimmen zeigt, dass das Urteil keineswegs von Anfang an festgestanden hatte. Das heute gängige Bild von Sokrates als Märtyrer für seine Überzeugung wurde von seinen Schülern gezeichnet, vor allem von Platon, der dem politischen System Athens die Schuld am Tod seines Lehrers gab. Rechtlich gesehen war das Urteil gegen Sokrates kein Justizfehler, sondern verlief getreu nach geltendem Gesetz. Dies ändert nichts an der zentralen Bedeutung Sokrates’ für die Nachwelt.
Mehr dazu
- Alexander Demandt: Sokrates vor dem Volksgericht von Athen 399 v. Chr., in: ders. (Hg.): Große Prozesse in der Geschichte, München 1990, S. 9–26.
- Christoph Horn: Philosophie der Antike. Von den Vorsokratikern bis Augustinus, München 2013.
- Peter Scholz: Der Prozess gegen Sokrates. Ein „Sündenfall“ der athenischen Demokratie?, in: Leonhard Burckhardt und Jürgen von Ungern-Sternberg (Hgg.): Große Prozesse im antiken Athen, München 2000, S. 157–173.
- Interview (07.11.2018) des SWR2 mit Kai Trampedach, Professor für Alte Geschichte an der Universität Heidelberg zu dem Prozess von Sokrates