Was ist Europa? - 22. Dezember 2021

Dauerbaustelle Europa

Eine reine Wirtschaftsgemeinschaft oder ein politisches, auf gemeinsamen Werten beruhendes Konstrukt? Gewiss beides, aber entscheidend war und ist stets der politische Wille zur Einheit.

Europa – das ist nicht nur ein geografischer Begriff, der für den Aufstieg und Fall von Weltreichen steht, sondern auch für eine gemeinsame geistige Tradition, die über die antike Philosophie, römisches Recht, ein christlich-humanistisches Menschenbild und die Aufklärung bis in unsere Tage reicht. Eine gemeinsame, wenn auch von erbitterten Rivalitäten geprägte Geschichte verband die Völker des Kontinents über Jahrhunderte. Heute eint – mit Abstrichen – ein gemeinsamer Wertehorizont die Europäerinnen und Europäer als Teilhaber einer Kulturgemeinschaft im weitesten Sinne und stiftet ein zwar nicht allein tragfähiges, aber doch alle verbindendes Moment.

Die Lehre aus zwei Kriegen

Die Erfahrung der beiden verheerenden Kriege des 20. Jahrhunderts, die mit der Bildung zweier Blöcke und der Vormachtstellung der USA und der damaligen Sowjetunion endeten, schuf nach 1945 eine historisch neue Situation: Es galt, das zwar in Trümmern liegende Deutschland, dessen Wiedererstarkung aber jeder fürchtete, in eine neue europäische Architektur in einer Weise zu integrieren, die den Fortbestand tief sitzender nationaler Ressentiments ebenso neutralisierte wie die Option zu politischen Alleingängen. Die Fehler des Versailler Vertrags durften sich nicht wiederholen. Der Hebel, der hierbei angesetzt wurde, war ebenso effizient wie klug gewählt: Die Schaffung wechselseitiger Abhängigkeiten und damit die Verunmöglichung von Autarkie bei gleichzeitiger Förderung von Kooperation sollte die Völker Europas zu Trägern gemeinsamer Interessen machen.

Als erster Schritt hierzu ist die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahre 1951 anzusprechen. Mit dem Vertragswerk, das den Unterzeichnerländern zollfreien Zugang zu Kohle und Stahl sichern sollte (daher auch Montanunion), wurde die erste supranationale europäische Institution geschaffen und der Grundstein der Europäischen Einigung gelegt. Zwei weitere Verträge folgten 1957: die Gründung der europäischen Wirtschafts- (EWG) und Atomgemeinschaft (Euratom), die eine europäische Wirtschaftspolitik beziehungsweise die gemeinschaftliche friedliche Nutzung der Kernenergie befördern sollten. Ab 1954/55 flankiert von einem Militärbündnis, der Westeuropäischen Union (WEU), war damit eine Nachkriegsordnung fundamentiert, die, demokratisch legitimiert und evolutionsfähig bis heute, nichts Geringeres darstellt als die vielleicht erfolgreichste übernationale Institution, die die Geschichte kennt. In den Folgejahren wuchs Europa institutionell und im kollektiven Bewusstsein seiner Einwohner immer mehr zusammen und gewann an Attraktivität für weitere Beitrittsländer. Der Einigungsprozess bescherte uns eine weitgehend vergemeinschaftete Rechtsordnung, gemeinsame Positionen in der Außen- und Sicherheitspolitik und mit dem Vertrag von Lissabon 2007 eine Europäische Union (EU). Derzeit gehören ihr 27 Mitgliedsländer an, mit freiem Verkehr für Waren und Dienstleistungen sowie Wegfall der Grenzkontrollen in 26 Staaten, von denen 19 eine gemeinsame Währung haben und darum auch finanz- und fiskalpolitisch eng verflochten sind.

Union mit Schattenseiten

Was sich in der Abfolge der Ereignisse wie eine einzige Erfolgsgeschichte liest, wird jedoch auch von einer ganzen Reihe von Fragen und Problemen überschattet. Schon die unterschiedliche Größe und Wirtschaftskraft der Mitgliedsländer generiert gewisse Asymmetrien. Dies wird durch das Einstimmigkeitsgebot im Rat bei sensiblen Themen zwar partiell neutralisiert, doch birgt eine wachsende Zahl von Mitgliedern auch die Gefahr einer Immobilisierung. Die Klage über eine überbordende Brüsseler Bürokratie mit 32.000 Beschäftigten ist schon fast so etwas wie das Mantra der Europakritiker geworden, aber schon deshalb nicht von der Hand zu weisen, weil das Subsidiaritätsprinzip allzu oft der Regelwut geopfert und dem Bestreben nach Einheitlichkeit nachgeordnet wird. So greift die EU in viele Lebensbereiche regulierend ein, wo dies den Bürgern schwer vermittelbar ist. Legendär wurde etwa die inzwischen längst abgeschaffte Verordnung Nr. 1677/88 zum vorgeschriebenen Krümmungsgrad von Salatgurken. Auch wird seit 2015 immer deutlicher, dass das Selbstverständnis der beteiligten Länder als Nationen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist – und damit auch die Neigung, sich Brüsseler Beschlüssen zu beugen, die stark in das Selbstbestimmungsrecht eingreifen. In Deutschland etwa ist der Begriff der Nation historisch belastet und in weiten Teilen des politischen Establishments verpönt; in den meisten anderen Ländern der EU würde man über diese Haltung nur den Kopf schütteln. Diese Differenzen werden beispielsweise in der Asyl- und Migrationspolitik sehr konkret und zu einer Belastungsprobe für die Wertegemeinschaft, da die einzelnen Länder bei diesem Thema mit einem völlig unterschiedlichen Maß an Toleranz und Verständnis agieren.

Dezidierte Positionen in diesem Punkt werden nicht nur von Ungarn, Polen und anderen kleineren osteuropäischen Nationen vertreten, sondern waren auch ein nicht zu unterschätzender Grund für den Brexit. Bestehende Verträge kommen so zuweilen in Gestalt eines zentralistischen Machtanspruchs daher und geraten auf Kollisionskurs mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, wenn diese sich durch Entscheidungen aus Brüssel in ihrer nationalen Souveränität bedroht fühlen. Föderale Prinzipien können so mit der Idee der europäischen Rechtseinheit durchaus in Konflikt geraten, wenn lokale Probleme nah und konkret sind, Brüssel aber fern ist. Doch EURecht bricht nun einmal Landesrecht – eine nicht immer leicht zu verkraftende Tatsache auch deshalb, weil der Union immer wieder Demokratiedefizite nachgesagt werden. Zwar ist die EU durchaus demokratisch legitimiert, aber nicht in einem vollgültig parlamentarischen Sinne, insofern der Ministerrat, der Rat der EU, als Organ der Regierungen der Länder neben dem EU-Parlament als direkt gewählter europäischer Bürgerkammer über die Gesetzesentwürfe, Verordnungen und Richtlinien der EU-Kommission mitentscheidet. Insofern herrscht ein Zwang zum Konsens. Ist die Mitgliedschaft in der EU, wie oftmals gepredigt, alternativlos? Schon die Frage klingt ketzerisch, doch ihre Tabuisierung spielt nur den politischen Rändern in die Hände. Die Schweiz lebt gut ohne sie und die Briten veranstalten hierzu gerade ein beispielloses historisches Experiment. Doch für Deutschland in der Mitte des Kontinents stellt es sich wohl so dar: Erstmals in unserer Geschichte sind wir nur von Freunden umgeben. Allein dies ist ein unstrittiger Verdienst der europäischen Einigung und kann in seinem Wert gar nicht hoch genug veranschlagt werden. So gesehen ist Europa die vielleicht schönste Dauerbaustelle, die man sich nur wünschen kann.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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