New Work - 27. Oktober 2022

Auf dem Weg

Das moderne, ortsungebundene Arbeiten ist das Titelthema dieser Ausgabe. Voraussetzung hierfür ist natürlich eine umfassende digitale Transformation der Ökonomie und Administration, doch nach wie vor hapert es damit.

Dass der Weg in die Digitalisierung bis heute – je nach Bereich – ganz unterschiedlich weit beschritten ist, muss durchaus nicht am Unwillen oder Unvermögen der Akteurinnen und Akteure liegen, im Beharrungsvermögen alter Gewohnheiten, kurzum in der Schwerkraft der Verhältnisse. Ein gewisses Maß an Skepsis und damit das Recht auf Wahrung eines eigenen Urteils ist darum nicht gleichzusetzen mit einer Fortschrittskritik oder gar -verweigerung, sondern sie stellten lediglich Fragen nach einfacher Handhabbarkeit, nach der Unkorrumpierbarkeit der zugrunde liegenden Systeme und nicht zuletzt danach, wie wir es mit der föderalen Struktur unserer öffentlichen Verwaltungen halten wollen.

An der kurzen Leine

Beginnen wir mit einem Beispiel, zu dem buchstäblich jeder Anekdoten beizutragen wüsste. Die Rede ist von der Begegnung mit dem Frontend jeder Digitalisierung, soweit sie beim Bürger oder Anwender ganz unmittelbar ankommt: dem elektronischen Formular. Selbst dann, wenn es keine Bugs enthält und das Ausfüllen nicht plötzlich in einem weißen Bildschirm mit Error-Code endet, führt es den Nutzer stets an der kurzen Leine der sogenannten Pflichtfelder. Die Weigerung oder Unmöglichkeit, ein bestimmtes Feld korrekt oder sinnstiftend auszufüllen, führt augenblicklich zum Abbruch und damit zum Scheitern des gesamten Vorgangs, beispielsweise bei einer Warenbestellung, bei einem Auskunftsbegehren oder einer Beschwerde.

Der digitale Patient

Nehmen wir als Beispiel für eine fortgeschrittene Transformation die elektronische Patientenakte (ePA), eine Datenbank, die Anamnese, Behandlungsdaten, Medikation, Allergien und eine Fülle weiterer Gesundheitsdaten von Krankenversicherten fallübergreifend, landesweit einheitlich speichert – sie gilt als ein Musterbeispiel durchdachter Digitalisierung, denn ihr Ziel ist es, Prozesse und Ergebnisqualität in medizinischen Behandlungsabläufen zu verbessern und zu rationalisieren. Die immanenten Vorteile liegen auf der Hand: Medizinisches Personal und Pflegeeinrichtungen sollen die Daten im Bedarfsfall überall ohne Zeitverlust abrufen können, freilich nur mit Zustimmung des Patienten. Doch woran liegt es, dass von den rund 71 Millionen Versicherten gerade einmal eine halbe Million die Akte nutzen, die Akzeptanz also überschaubar ist? Ein wesentlicher Punkt liegt offensichtlich darin, dass die ePA dem Versicherten einen gewissen Vertrauensvorschuss abverlangt – gewiss nicht hinsichtlich der Verschwiegenheit des Personals, aber hinsichtlich des zugrunde liegenden digitalen Netzwerks, dessen Struktur, Möglichkeiten und Grenzen für den Laien schwer durchschaubar sind. Insofern lenkt diese Zurückhaltung der Versicherten die Aufmerksamkeit auf einen ganz wesentlichen Umstand: dass eine fortschreitende Digitalisierung nicht nur objektiv maximale Datensicherheit erfordert, sondern darüber hinaus eines breiten gesellschaftlichen Konsenses bedarf. Daraus lässt sich nur eine Aufgabe von äußerster Dringlichkeit ableiten: die Schaffung von Vertrauen. Dies betrifft in hohem Maße die Bundesregierung, die unter der Federführung von Minister Volker Wissing ihre Digitalstrategie bis 2025 vorgestellt hat. Das 51-seitige Papier sieht nicht nur 18 Projekte mit Hebelwirkung vor, sondern benennt klare und messbare Ziele, die bis 2025 zu erreichen sind. Eines davon lautet, dass bis 2025 mindestens 80 Prozent der Versicherten eine ePA haben sollen.

Föderalismus und Digitalisierung

Ein weiterer Punkt, der sich unmittelbar anschließt, ist das Erfordernis einheitlicher IT-Basiskomponenten und Schnittstellen, auf die Bund, Länder und Kommunen verpflichtet werden. Nur dann kann glücken, was Volker Wissings Digitalstrategie weiter anstrebt: die deutsche Verwaltung dazu zu bringen, ihre ungeheuren Mengen an Daten anonymisiert der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Wir alle kennen die Klagen über die schleppende Transformation der öffentlichen Verwaltung, die Medienbrüche, die in den Behörden bis heute gang und gäbe sind, die vermeintlich elektronisch zu be- und verarbeitenden Anträge, die in Wahrheit nur PDF-Dokumente sind, die hernach auszudrucken, mit einem analogen Foto zu versehen (nur beilegen, nicht einkleben, bitte!), händisch zu unterschreiben und mit gelber Post an die Behörde zu schicken oder manchmal – topmodern – zu faxen sind. Verständlich, dass hier der Ruf nach einer flächendeckenden E-Aktenführung, nach einer einheitlichen Plattform für Staatsaufgaben nach dem Muster von Amazon oder eBay, laut wird, nach elektronischer Authentifizierung, die imstande ist, automatisiert ganze Kaskaden von behördenübergreifenden staatlichen Dienstleistungen auszulösen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist zweifellos das 2017 in Kraft getretene Onlinezugangsgesetz (OZG), das Bund, Länder und die 11.000 Kommunen verpflichtet, ihre 575 Verwaltungsleistungen bis Ende dieses Jahres auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten. Anträge und Leistungen sollen so mit wenigen Klicks zugänglich sein. Dass die Nutzerorientierung bei der OZG-Umsetzung oberste Priorität hat, führte nun freilich dazu, dass zwar mit Hochdruck die bewussten – siehe oben – elektronischen PDF-Formulare entwickelt wurden, hinter denen leben in den Behörden aber nach wie vor viele analoge Abläufe, Druck- und Scanvorgänge sowie Ordnerablagen munter weiter, von einer Vernetzung der Ämter untereinander ganz zu schweigen. Immerhin: Voraussichtlich 55 Verwaltungsvorgänge sollen bis 2023 voll digitalisiert ablaufen – etwa die Kommunikation mit den Finanzgerichten. Wir sollten bei aller berechtigten Kritik jedoch nicht übersehen, dass die politisch ja erwünschte föderale Struktur unseres Landes und damit auch der Behörden eine der Hauptursachen dafür ist, dass sich über die Jahrzehnte unüberschaubar heterogene Fachverfahren entwickelt haben, jene Vielzahl definierter administrativer Abläufe, die bestenfalls den Strukturen landeseigener Datenzentren folgen, wenn sie nicht überhaupt in selbst gestrickter Software oder solcher von Drittanbietern digital abgebildet werden. In den wenigsten Fällen wurde in der Vergangenheit je etwas kommunen oder gar länderübergreifend aufeinander abgestimmt. Die überregionale Vereinheitlichung der administrativen Vorgänge und die Vernetzung der Behörden würden dem Bürger zweifellos ein gewaltiges Plus an Einfachheit und Sicherheit bescheren – freilich um den Preis einer unvermeidlichen Schwächung des Datenschutzes. Denn in jedem Fall würde dies die technische Voraussetzung schaffen, dass Daten von mehr Personen eingesehen werden können als heute. Insofern haben wir es bei der Bewertung der Digitalisierungspraxis, wie in so vielen Rechtsräumen, stets mit Güterabwägungen zu tun.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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