Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 14.11.2022
Möglichkeit zum Handel mit subventioniertem Gas begrenzen
Die Gaspreiskommission hat insgesamt sehr gute Vorschläge gemacht, um die Konjunktur in Deutschland angesichts hoher Gaspreise zu stützen, die Inflation zu dämpfen und Anreize zum Gassparen zu erhalten. Ein Detail der vorgeschlagenen Gaspreisbremsen ist allerdings problematisch: Die pauschale Regelung, dass Unternehmen ihr gesamtes subventioniertes Gaskontingent „am Markt verwerten“ dürfen sollen. Sie kann es für Unternehmen attraktiv machen, ihre Produktion weitgehend oder gar komplett herunterzufahren, weil sie mit dem Weiterverkauf des subventionierten Gases kurzfristig höhere Gewinne erzielen als mit ihrem eigentlichen Geschäft. Dies könnte zu massiven Unterbrechungen von Lieferketten, zu Wachstumsverlusten und höherer Inflation führen, ergibt eine neue Kurzstudie, die Prof. Dr. Sebastian Dullien und Erik Thie vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zusammen mit Prof. Dr. Isabella Weber verfasst haben. Eine bessere Möglichkeit, Gassparanreize und Stabilisierung der Wirtschaftstätigkeit zu vereinbaren, sehen die Fachleute darin, auf gezielte Rückkäufe für laufend nötige Sparvolumina zu setzen. Das heißt: Grundsätzlich bekommen Unternehmen nur Gas subventioniert, das sie auch wirklich in der Produktion einsetzen. Sollte aber eine – aktuell eher unwahrscheinliche – Extremsituation eintreten, in der das Gas in Deutschland wirklich nicht mehr für alle Verbraucher reichen würde, könnte beispielsweise die Bundesnetzagentur Unternehmen gezielt Gas zu einem höheren Preis abkaufen, wenn diese zeitweilig ihre Produktion drosseln, ohne dabei elementare Lieferketten zu gefährden.
Für die Industrie schlägt die Kommission vor, im Rahmen einer Gaspreisbremse 70 Prozent des Verbrauchs von 2021 auf 7 Cent (ohne Netzentgelte und Mehrwertsteuer) pro Kilowattstunde herunter zu subventionieren. Diese Gasmenge, so heißt es im Abschlussbericht, soll ein Unternehmen dann „für seine Zwecke nutzen oder am Markt verwerten“ dürfen. Letzteres bedeutet, dass die Unternehmen das subventionierte Gas teurer weiterverkaufen und die daraus erzielten Gewinne behalten dürfen. Was zunächst harmlos klingen mag, droht die deutsche Wirtschaft in ihrer Gesamtheit schwer zu schädigen, warnen Dullien, Thie und Weber, die Ökonomieprofessorin an der University of Massachusetts ist und Mitglied in der Kommission war.
Hintergrund: Die Gaspreisbremsen für Haushalte, Gewerbe und Industrie verfolgen drei Ziele: Die negativen Effekte sehr hoher Gaspreise auf die Wirtschaftsaktivität abzufedern, die Inflation in Deutschland zu senken und gleichzeitig die Anreize zum Gassparen zu erhalten. „Dabei ist klar, dass die verschiedenen Zielsetzungen der Gaspreisbremse in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. Insbesondere das Spargebot auf der einen Seite und die wirtschaftliche Stabilisierung und Inflationsbekämpfung auf der anderen Seite gilt es zu vereinbaren“, schreiben die Forschenden. Die Möglichkeit für Unternehmen, subventioniertes Gas nicht zu nutzen, sondern vollständig weiterzuverkaufen, stelle zwar ein marktwirtschaftliches Instrument dar, den Gasverbrauch kurzfristig zu senken. Doch das um einen sehr hohen Preis. Dadurch würden „Wertschöpfungsketten und Wirtschaftsaktivität gefährdet, der Inflationsdruck erhöht und die fiskalischen Kosten der Gaspreisbremse in die Höhe getrieben, obwohl man die notwendigen Einsparungen im Gasverbrauch auch ohne diese schädlichen Nebenwirkungen erreichen könnte.“
Fehlanreiz könnte aus Produktionsbetrieben Gashändler machen
Die Ökonomin und die beiden Ökonomen warnen vor massiven Fehlanreizen: Anstatt das subventionierte Gas für ihre eigentliche Produktion zu verwenden, könnten etwa Stahl- und Chemieunternehmen mit solch einer Regelung zu Gashändlern werden und ihr Geschäft zwischenzeitlich stilllegen. Vor allem im energieintensiven Bereich am Anfang der Wertschöpfungskette sei solch ein Szenario denkbar, „da hier ein Verkauf des subventionierten Gases zu derzeit hohen Marktpreisen schnell profitabler sein kann, als das Gas in der eigenen Produktion einzusetzen.“ Die Subvention könnte so zu einer „Winterschlafprämie“ werden, die Produktionsstillegungen fördert.
Die Folge: Es drohen nicht nur starke Produktionsrückgänge in den energieintensiven Branchen, sondern auch weitreichende Kaskadeneffekte. Wie schon in der Corona-Krise, als das Fehlen einzelner, an sich relativ billiger, Autoteile zum Stillstand ganzer Produktionslinien führte, kann ein Ausfall von Vorprodukten massive Ausfälle von Produktion und Wertschöpfung entlang der Lieferketten verursachen. Dieses Problem könnte bei weitreichenden Produktionseinschränkungen in der chemischen Industrie noch einmal gravierender sein, befürchten Dullien, Thie und Weber. Denn chemische Produkte sind oft Kuppelprodukte und einzelne, für weitere Produktionsschritte in anderen Betrieben notwendige, Chemikalien in den Ursprungsprozessen häufig nur Neben- oder gar Abfallprodukte, denen die Hersteller nicht viel Beachtung schenken.
Wird die Produktion zurückgefahren, drohen weitere Inflationsschübe
So entstehende Knappheiten entlang der Wertschöpfungskette könnten nach Analyse der Forschenden wiederum den Inflationsdruck weiter anheizen. Unternehmen dürften bei reduzierter Produktion höhere Preissetzungsmacht haben und es ist zu erwarten, dass sie diese nutzen. Ähnliches war im Nachgang der Corona-Pandemie etwa in der Automobilindustrie zu beobachten, als die Autokonzerne aufgrund von Halbleitermangel die Produktionszahlen drosselten und zugleich Margen und Gewinne erhöhten. Manche energieintensiven Unternehmen könnten hier nun sogar doppelt profitieren: Einmal, indem sie die Subventionen bei Produktionspausen einstreichen, zum zweiten, wenn sie etwa aus anderen, ausländischen Produktionsstätten die Nachfrage bedienen und dann höhere Preise und höhere Margen durchsetzen können.
Diese negativen Folgen für den Rest der Wirtschaft spielten in der rentabilitäts- und betriebswirtschaftlich orientierten Entscheidungsfindung einzelner Unternehmen keine Rolle. Schließlich haben Unternehmen in erster Linie sich und ihre direkten Konkurrenten im Blick, nicht aber die Gesamtwirtschaft. „Auch der grundsätzlich richtige Ansatz in den Kommissionsvorschlägen, Standortgarantien etwa über sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen zur Voraussetzung einer Subvention zu machen, löst dieses Problem nicht“, schreiben die Forschenden. Denn bei diesen Standortgarantien geht es um die Perspektive ab 2024, nicht um die Sicherung von Produktion und Lieferketten bis zum Frühjahr 2024.
Deindustrialisierung durch falsche Subventionierung
Auch steigende Importe dürften die Probleme in den Lieferketten nur begrenzt lösen beziehungsweise sogar neue, mittel- und langfristige Probleme für Lieferketten schaffen. Kurzfristig sind nicht alle Vorprodukte auf den Weltmärkten ausreichend verfügbar, insbesondere in den Bereichen, in denen Deutschland Weltmarktführer ist. Mittel- und langfristig besteht aus Sicht der Forschenden die Gefahr, dass Vorprodukte dann dauerhaft aus dem Ausland bezogen werden, was das Ziel konterkarieren würde, über geographisch kürzere Lieferketten die Resilienz der deutschen Wirtschaft gegen Schocks wie die Corona-Pandemie oder den Ukraine-Krieg zu stärken. „Auch würde ein solcher Umbau der Lieferketten der Deindustrialisierung Deutschlands Vorschub leisten und die industrielle Grundlage für eine schnelle Transformation hin zu einer grüneren Wirtschaft gefährden“, warnen Dullien, Thie und Weber.
Im Eckpunktepapier der Bundesregierung zur Umsetzung der Gaspreisbremse findet sich – anders als im Kommissionsbericht – nicht der Begriff „am Markt verwerten“. Stattdessen heißt es dort, dass die Förderung „unabhängig vom tatsächlichen Verbrauch“ erfolgen solle. Doch das löst das Problem der falschen Anreize aus Sicht der Forschenden nicht, denn es bedeutet: Die Unternehmen sollen die volle Förderung für ihr 70-Prozent-Kontingent auch dann erhalten, wenn sie gar kein Gas mehr verbrauchen. Ökonomisch sei diese Regelung äquivalent zu der Möglichkeit, das subventionierte Gas am Markt zu verkaufen, allerdings müssen die Unternehmen nicht mehr als Gashändler auftreten, um in den Genuss der Subventionen zu kommen. Sie können einfach ihre Produktion zurückfahren und die Subventionen einbehalten.
Alternativansatz vermeidet Fehlanreize
Um das Problem falscher Anreize zu lösen, schlagen Dullien, Thie und Weber einen alternativen Ansatz vor. Kerngedanke: Unternehmen würden danach primär ihr tatsächlich in der Produktion verbrauchtes Gas subventioniert bekommen. So würde verhindert, dass die Subvention pauschal eine mögliche Stilllegung fördert.
Ausreichende Sparanreize können dennoch realisiert werden, argumentieren die Fachleute. Schließlich sind die subventionierten Kontingente in den von der Kommission vorgeschlagenen Gaspreisbremsen für Haushalte, Gewerbe und Industrie (80 Prozent des geschätzten beziehungsweise 70 Prozent des Verbrauchs von 2021) bereits so bemessen, dass bei einer Reduktion des Verbrauchs auf diese subventionierten Mengen eine Gasmangellage weitgehend ausgeschlossen wird. Im Falle der Unternehmen gelten ja für den Bezug jenseits des 70-Prozent-Kontingents weiterhin die extrem hohen Marktpreise. Auch der subventionierte Preis sei immer noch in etwa zwei Mal so hoch wie vor der Krise und sende somit ein klares Sparsignal.
Darüber hinaus könnte eine Veräußerung des subventionierten Gases durch Industrieunternehmen für gezielt definierte Mengen organisiert werden, wenn beispielsweise wirklich eine akute Gasknappheit drohen sollte. Zur Umsetzung böte sich das bereits bestehende so genannte „Regelenergieprodukt“ der Bundesnetzagentur an, die darüber gezielte Rückkäufe vornimmt. Das Volumen für solche Rückkäufe kann sich dann etwa am aktuellen Füllstand der Gasspeicher orientieren. Auch können die Volumina nach Sektor begrenzt werden und Bedingungen für die Teilnahme am Rückkauf definiert werden. So können für Lieferketten kritische Bereiche vom Rückkauf ausgeschlossen und dem Zusammenbruch von Produktionszweigen vorgebeugt werden.
Zusätzlich könnte man bei Bedarf auch einen begrenzten Anteil des geförderten Gases zur Verwertung am Markt frei geben. Ein Teil der Subvention würde dann verbrauchsunabhängig gezahlt. Denkbar wäre etwa, wie im Kommissionsvorschlag 70 Prozent des Vorjahresverbrauchs zu subventionieren, aber den Weiterverkauf davon auf 20 Prozentpunkte dieser Menge zu beschränken. Damit würde die implizite Subvention für ein vollständiges Herunterfahren der Produktion wegfallen und gleichzeitig wäre ein zusätzlicher Anreiz zu Einsparungen gegeben.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung