DIW Berlin, Pressemitteilung vom 19.03.2020
- Deutsche Wirtschaft in der Rezession
- Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr zu erwarten
- Prognosen mit großer Unsicherheit behaftet
- Mehrere Szenarien für die kommenden Monate denkbar
- Entschiedenes finanz- und wirtschaftspolitisches Gegensteuern nötig
- Europäische Koordination erforderlich
Die Ausbreitung des Corona-Virus bringt für die deutsche Wirtschaft bisher ungekannte Risiken und Herausforderungen mit sich. Das öffentliche Leben in Deutschland ist innerhalb kürzester Zeit weitgehend zum Erliegen gekommen. Die wirtschaftlichen Schockwellen durchziehen sowohl die Angebots- wie auch die Nachfrageseite: Aufgrund fehlender Vorleistungsgüter und weil der Arbeitsalltag vielerorts nicht wie gewohnt vonstattengehen kann, müssen viele Unternehmen ihre Produktion zurückfahren oder sogar einstellen. Damit verbunden ist ein erheblicher Rückgang der Nachfrage nach Dienstleistungen und Investitionsgütern. Die Haushalte schränken ihren Konsum ein, was insbesondere im Einzelhandel, der Gastronomie und in der Reisebranche große Umsatzausfälle bedeutet. Verstärkt werden diese Effekte durch die erhebliche Verunsicherung der Unternehmen und Haushalte. Da der weitere Verlauf der Pandemie und die konkreten politischen Reaktionen auf diese kaum vorhersehbar sind, ist der Ausblick auf die künftige konjunkturelle Entwicklung weitaus unsicherer als sonst.
Szenario V – schnelle Normalisierung
Sicher scheint allerdings, dass die deutsche Wirtschaft mindestens in den kommenden beiden Quartalen erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird. Wie es danach weitergeht, hängt davon ab, wie bald eine Rückkehr zu normalen wirtschaftlichen Aktivitäten möglich ist und gelingt. Ein Szenario, das einen ähnlichen Verlauf der Virusausbreitung unterstellt wie bei vergangenen Epidemien, etwa der Schweinegrippe, SARS oder der Vogelgrippe, ähnelt einem „V“: Nachdem es steil bergab ging, normalisieren sich nach erfolgreicher Eindämmung des Virus die Produktion und der Konsum relativ bald, im aktuellen Fall in der zweiten Jahreshälfte. Selbst in diesem – Stand jetzt eher optimistischen – Szenario würde die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr unter dem Strich aber schrumpfen, um 0,1 Prozent. Die Corona-Krise würde in diesem Fall ein um rund 1,3 Prozentpunkte geringeres Wachstum nach sich ziehen.
Szenario L – langwierige Produktionsstörungen, nachhaltiger Nachfragerückgang
Das Virus könnte zeitlich und räumlich jedoch noch weitaus größere Kreise ziehen. Weitere Länder sehen sich womöglich zu weitgehenden Maßnahmen veranlasst, die in vielen Fällen die exportorientierte und offene Volkswirtschaft Deutschlands träfen – selbst, wenn der Höhepunkt der Epidemie hierzulande irgendwann überschritten sein sollte. Die Haushalte und Unternehmen sind nachhaltig verunsichert und stellen Anschaffungen weiter zurück. Dies würde die Abwärtsdynamik noch beschleunigen und eine wirtschaftliche Erholung verzögern. Der Verlauf in diesem Szenario entspräche einem „L“: Es geht steil bergab, Produktion und Konsum normalisieren sich nicht, sondern verharren auf dem geringeren Niveau. Die Rezession würde dann erheblich schwerer ausfallen.
Gäbe es das Corona-Virus und seine Folgen nicht, wäre die Industrierezession allmählich zu einem Ende gekommen. Auch die Weltkonjunktur hätte sich eigentlich stabilisiert, zumal es in Sachen Brexit eine Atempause gibt und die USA und China in ihren Handelsgesprächen Fortschritte verzeichnen konnten. Vom Rückgang dieser Risiken hätte die exportorientierte deutsche Wirtschaft unter normalen Umständen besonders profitiert. Doch all das ist nun hypothetisch.
Entschiedenes Handeln zur Stabilisierung notwendig
Der Krise sollte schnell und massiv entgegengetreten werden. Weltweit haben Zentralbanken, etwa die US-Notenbank Fed und die Europäische Zentralbank, teils weitreichende Schritte unternommen, um die Märkte zu beruhigen. Dies ist wichtig, um ein Wiederaufflammen der Krise im Euroraum, aber auch eine neue Bankenkrise zu verhindern.
Mindestens genauso gefragt ist jetzt die Finanzpolitik. Die Bundesregierung hat ein umfassendes Paket vorgestellt, das die kurzfristige Liquidität für Unternehmen sichert und den Zugang zu Kurzarbeitergeld erleichtert. Dies ist ein wichtiger erster Schritt, um Insolvenzen und Arbeitsplatzverluste zu vermeiden. Andere Lösungen braucht es aber für Kleinunternehmerinnen und -unternehmer sowie Solo-Selbständige, für die die derzeitige Krise vielfach zur Existenzbedrohung wird. All dies sichert den Fortbestand der betrieblichen Strukturen in Deutschland.
Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef
„Die Politik sollte jetzt weiter entschlossen handeln: Brücken mit Liquiditätshilfen und Kurzarbeit bauen, die Bereitschaft für einen erheblichen Nachfrageimpuls erklären und eine Koordination zwischen den Regierungen organisieren.“
Sollte sich die wirtschaftliche Krise trotz eines Abebbens der Pandemie verfestigen, wäre es außerdem nötig, den Konsum der privaten Haushalte und die Investitionen anzukurbeln. Möglich wäre, die teilweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags vorzuziehen oder vorübergehend die Mehrwertsteuer oder die Sozialversicherungsbeiträge zu senken.
Ein entschiedenes Handeln ist notwendig, um auf Seiten der Haushalte, vor allem aber der Unternehmen eine Vertrauenskrise zu verhindern. Diese würde bei Unternehmen zu einer deutlichen Investitionszurückhaltung führen. Zum einen könnten Unternehmen durch großzügigere Abschreibungsregeln dazu animiert werden, bereits geplante Investitionsprojekte jetzt nicht aufzuschieben, sondern frühzeitig in Angriff zu nehmen und damit die Nachfrage anzukurbeln. Um Vertrauen zu stärken, sollte die Bereitschaft zu derartigen Maßnahmen klar und frühzeitig kommuniziert werden.
Diese Maßnahmen sollten zudem auf europäischer Ebene koordiniert und durch gemeinsame europäische Initiativen ergänzt werden. Hierfür könnte auch der europäischen Rettungsschirm ESM genutzt werden. Wichtig dabei ist, den Glauben an und das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit aller europäischen Regierungen, vor allem Italiens, sicherzustellen. Zentrales Ziel muss sein, eine tiefe anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise zu verhindern.