Hans-Böckler-Stiftung, Pressemitteilung vom 22.06.2023
Nachdem die Arbeitskosten im ersten und insbesondere dem zweiten Corona-Jahr in Deutschland und den meisten EU-Ländern lediglich langsam gestiegen waren, haben sie sich 2022 deutlich stärker erhöht. Im Zuge von Energiepreisschocks und sehr starker Inflation waren europaweit die größten Zuwächse seit Beginn der 2000er Jahre zu verzeichnen. So stiegen die Arbeitskosten je Arbeitsstunde in der Privatwirtschaft in Deutschland um jahresdurchschnittlich 6,4 Prozent. Dabei fiel die Zunahme im Dienstleistungsbereich, der traditionell vergleichsweise niedrige Arbeitskosten hat, deutlich stärker aus als in der Industrie. Dazu hat auch die Mindestlohnerhöhung beigetragen, durch die gleichzeitig der Niedriglohnsektor in Deutschland geschrumpft ist. In der EU legten die Arbeitskosten um 5,4 Prozent zu und im Euroraum um 5,0 Prozent. Gleichzeitig erlitten die Beschäftigten europaweit im Durchschnitt Reallohnverluste, während viele große Unternehmen mit hohen Gewinnen abschlossen. Mit Arbeitskosten von 40 Euro in der Privatwirtschaft rangiert die Bundesrepublik weiterhin im oberen Mittelfeld Westeuropas. 2022 erneut auf Position sechs unmittelbar vor Österreich. Das zeigt der neue Report des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zu den Arbeits- und Lohnstückkosten.
„Wir durchlaufen eine Phase der wirtschaftlichen Zuspitzungen, und die haben 2022 wie wenige andere Jahre geprägt“, sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK. „Schmerzhafte Reallohnverluste, deutlich höhere Arbeitskosten, brüchige Lieferketten, wachsende Dividenden bei vielen Dax-Konzernen und ein stabiler Arbeitsmarkt – alles in einem Jahr. So verwirrend und teilweise beunruhigend das Bild wirkt, können wir bislang ein relativ positives Zwischenfazit ziehen: Die meisten europäischen Länder und insbesondere Deutschland sind bislang recht stabil durch diese Krise gekommen und außenwirtschaftlich weiterhin sehr wettbewerbsfähig. Im laufenden Jahr müssen wir zwar mit einer leichten Schrumpfung beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) rechnen. Aber angesichts der großen Belastungen wäre viel Schlimmeres möglich gewesen.“ Der Ökonom führt das neben einer funktionierenden Sozialpartnerschaft auch auf die Anti-Krisen-Politik der Bundesregierung zurück. „Sie hat die Energieversorgung abgesichert und Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen an wichtigen Stellen entlastet. Jetzt ist es wichtig, dass sie diesen Kurs fortsetzt – mit einer Verlängerung der Energiepreisbremsen bis ins nächste Frühjahr ebenso wie etwa mit der Initiative für einen Industriestrompreis zur Standortsicherung in der Transformation.“
Mittelfristige Stabilität bei kurzfristigen Ausschlägen hat nach der neuen Analyse des IMK auch die Entwicklung der Lohnstückkosten geprägt. Diese sind 2022 in Deutschland zwar um 3,8 Prozent gestiegen und damit etwas stärker als im Euroraum (3,3 Prozent). „Ein Grund zur Sorge ist das dennoch nicht“, betonen Dr. Ulrike Stein und Prof. Dr Alexander Herzog-Stein, die die neue Studie verfasst haben. „Die deutsche Wettbewerbsposition ist weiter unverändert.“ So stiegen die deutschen Lohnstückkosten im Durchschnitt der vergangenen drei Jahre um jährlich 2,4 Prozent, und damit langsamer als im Euroraum insgesamt (2,5 Prozent). Auf die längere Frist gesehen liegt die Lohnstückkostenentwicklung der deutschen Wirtschaft sogar trotz der Beschleunigung 2022 weiterhin deutlich unterhalb der Zielinflation der Europäischen Zentralbank. Zudem hätten auch viele außereuropäische Wettbewerber 2022 erhebliche Steigerungen bei den Lohnstückkosten verzeichnet.
Ein weiteres Indiz ist für die Forschenden die Leistungsbilanz der Bundesrepublik: Sie wies im vergangenen Jahr trotz aller Preisschocks bei Energie- und anderen Importen einen erheblichen Überschuss von vier Prozent des BIP auf. In diesem und im kommenden Jahr dürfte der Überschuss mit fallenden Energiepreisen wieder zunehmen. Die EU-Kommission ordnet Leistungsbilanzüberschüsse ab sechs Prozent als problematisch hoch ein.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung