Finanzpolitik - 3. Juni 2020

In der Krise entdeckt die EU im Binnenmarkt ihre wahre Stärke und läutet den Paradigmenwechsel ein

DStV, Mitteilung vom 03.06.2020

Die COVID-19-Pandemie fällt in eine Zeit der finanzpolitischen Weichenstellungen für die Europäische Union. Der enorme Finanzbedarf zur Bewältigung der Krise fällt in eine Zeit der intensiven Diskussionen um die Ausrichtung des nächsten EU-Haushaltes und der zu erwartenden Finanzierungslücke durch den Austritt Großbritanniens. Diese und weitere Faktoren führen zum finanzpolitischen Paradigmenwechsel: Die EU wird erstmals eigene Kredite zur Bekämpfung der Krise aufnehmen. Eine Chronologie und Einschätzung der Ereignisse.

Zwölf Jahre nach dem Beginn des letzten ökonomischen Stresstests stellt sich 2020 erneut die Frage, wie Europa den Finanzbedarf zum Wiederaufbau seiner Wirtschaft decken kann.

Der damals entstandene Dominoeffekt von Banken-, Staatsschulden- und letztlich Währungskrise soll sich 2020 nicht wiederholen. Die erste Belastungsprobe vor zehn Jahren traf vor allem Staaten, die durch die vorangegangene Bankenrettung ihre existierenden Staatsschulden ausweiteten und dadurch das Vertrauen der Gläubiger verloren. Die Summe mehrerer Faktoren führte dazu, dass die Folgen der ursprünglichen Banken- bzw. Staatsschuldenkrise nicht die gesamte Eurozone gleichermaßen trafen. Anders entwickelte sich die jetzige Pandemie, die als symmetrischer Schock den Alltag in ganz Europa in Selbstisolation versetzt.

Die Rechnung der Corona-Pandemie ist verheerender als die vorangegangene Krise. Prognosen gehen davon aus, dass die europäische Wirtschaft in diesem Jahr um 7,5 % des EU-BIPs schrumpfen wird. Für das Jahr 2021 gehen Ökonomen zwar wieder von einem Wachstum von rund 6% aus, die entstandenen volkswirtschaftlichen Schäden werden jedoch länger anhalten.

Paradigmenwechsel angekündigt

„Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich mit der Kultur beginnen“, soll Jean Monnet, einer der Gründungsväter der Europäischen Zusammenarbeit einmal gesagt haben. Nun, da ist er. Der kulturelle Wandel im Bereich der EU-Finanzpolitik kommt in Form der Kommissionsvorschläge und der grundsätzlichen Übereinkunft der Staats- und Regierungschefs daher, Geld in beispielloser Dimension durch die Schuldenaufnahme der EU zu beschaffen. Historische Vergleiche zur amerikanischen Union von 1790 werden gezogen und von einem „Hamilton-Moment“ gesprochen. Der damalige US-Finanzminister nahm für den Staatenbund erstmals gemeinsame Anleihen (und ohne Zentralbank) auf. 2020 scheint nicht wirklich mehr die Frage zu sein, ob dieser Paradigmenwechsel der gemeinsamen schuldnerischen Haftung kommt, sondern wie die operationelle Umsetzung und Höhe aussehen wird.

Kein leichtfertiges Umdenken

Fünf Wochen vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft präsentierten Deutschland und Frankreich nach intensiven Abstimmungen mit der EU-Kommission einen Plan, der als großes Zeichen gegenseitiger europäischer Solidarität gewertet werden kann. Danach soll die EU-Kommission an den Kapitalmärkten 500 Mrd. Euro aufnehmen, um diese Gelder an, die am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten in Form zinsfreier Zuschüsse verteilen zu können. Nicht einzelne Staaten, sondern der weltweit größte Wirtschaftsraum würde für die Rückzahlung der neuen (!) Schulden einstehen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die einzelnen nationalen Regierungen der EU bereits rund 2.000 Mrd. Euro zur Krisenbekämpfung aufgewendet.

Gegen den deutsch-französischen Vorschlag regte sich Widerstand einer Vierer-Koalition (Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden). Sie setzen auf einen 250 Milliarden Euro schweren Fonds, dessen Gelder über Kredite ausgegeben werden sollen.

Eine Woche später am 27.05.2020 konkretisiert die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament den gesamteuropäischen Wiederaufbauplan und präsentierte nicht nur eine Kombination der beiden Vorschläge. Mit ihrem Wiederaufbauplan „Next Generation EU“ setzt sie auch die festgefahrenen Verhandlungen zum nächsten EU-Haushalt wieder in Gang. Die Diskussion über den EU-Haushalt war vor COVID-19 besonders durch die zu füllende Lücke des Brexits geprägt. In Anbetracht der jetzigen Dimensionen wirkt der Streit der letzten Monate wie aus der Zeit gefallen.

Der Kommissionsvorschlag bündelt drei bestehende Finanzierungshilfen.

  1. 540 Mrd. Euro aus dem Fonds zur Arbeitslosenunterstützung (SURE), Krediten des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den von der Europäischen Investitionsbank (EIB) ausgegebenen Kreditlinien für KMUs.
  2. 1.100 Mrd. Euro für den EU-Haushalt (2021 – 2027). In der letzten Haushaltsperiode (2014 – 2021) lag das Volumen bei 950 Mrd. Euro.
  3. 750 Mrd. Euro EU-Eigenmittel durch „Next Generation EU“.

Während A. die nationalen Haushalte mit (vergünstigten) Krediten versorgt, stellen die Bereiche B. und C. zum großen Teil Zuschüsse in die nationalen, regionalen und kommunalen Haushalte der EU dar.

A. Finanzierungshilfen auf Basis von Krediten

In der Frühphase der Krise aktivierten die EU-Kommission, die Europäische Investitionsbank (EIB) und der intergouvernementale Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) bestehende Programme und passten diese an den plötzlich entstandenen Finanzbedarf an. Daraus entwickelte sich ein erstes Paket, das insgesamt 540 Mrd. Euro an Unterstützungskrediten zur Verfügung stellte:

  • 100 Mrd. Euro zur Förderung von Kurzarbeit, Support mitigating Unempolyment Risks in Emergency (SURE). Emittent: EU-Kommission. Zielgruppe: Beschäftigte und Unternehmen.
  • 25 Mrd. Euro COVID-19 Garantiefonds. Emittent: EIB. Zielgruppe: KMU.
  • 240 Mrd. Euro Kreditlinien Pandemic Crisis Support. Emittent: ESM. Zielgruppe: Mitgliedstaaten.

Die Unterstützungsleistung auf Basis von ESM-Krediten wurde von den am stärksten betroffenen Mitgliedstaaten Italien, Spanien und Frankreich und sechs weiteren EU-Mitgliedern kritisch gesehen, abgelehnt und mit dem Gegenvorschlag der „Corona-Bonds“ kommentiert.

Gemeinschaftsanleihen sind seit gut zehn Jahren ein heftig umstrittenes Instrument zur Finanzierung europäischer Politik. Der Gegenvorschlag und die ablehnende Haltung gegenüber ESM-Hilfen in diesen Staaten begründeten sich vor allem aber aus dem Umstand, dass die Institution ESM als ein Instrument aus Zeiten der letzten Krise, mit begrenzter Solidarität, harten Spar- und Reformauflagen wahrgenommen wird. Die Inanspruchnahme von ESM-Krediten würde folglich die Staatsschuldenquote erhöhen und das Risiko eines Vertrauensverlusts auf den Finanzmärkten steigern. Der Eintritt in einen Teufelskreislauf aus Staatsschulden- und Währungskrise wie 2011 wären mögliche Folgen. Zurecht verwiesen Italien, Frankreich und Spanien auf den exogenen Ursprung der Pandemie, die alle Staaten umfasst und nicht auf fiskalpolitische Versäumnisse der Regierungen zurückzuführen sind. Die Erfahrungen der letzten Finanzkrise sind nicht nur in Griechenlandheute noch treibende Faktoren der Innenpolitik.

B. + C. Finanzierung auf Grundlage von Zuschüssen

Der EU-Haushalt wird auch in der neuen Finanzperiode zweckgebundene Mittel umfassen, die nicht umgeschichtet werden können. EU-Programme wie Erasmus+, Fischerei-, Agrar-, Sozial- und Regionalfonds finanzieren auch weiterhin Projekte und Regionen, die unabhängig von der Pandemie einen Bedarf anmelden. Grundsätzlich werden die bestehenden EU-Förderprogramme auf ihre Wiederaufbaufähigkeit hin untersucht und gegebenenfalls durch die neuen EU-Eigenmittel ergänzt.

Der künftige EU-Haushalt soll nach Plänen der EU-Kommission drei Schwerpunkte besitzen, die den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft in der ersten Hälfte des neuen Jahrzehnts ermöglichen soll.

1. Schwerpunkt: Unterstützung der Mitgliedstaaten beim Wiederaufbau

  1. Der Kohäsionsfonds für strukturschwache Regionen und
  2. der Fonds für ländliche Entwicklung sollten aufgestockt werden.
  3. „Just Transition Fund“ für den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft. Stichwort: „Green New Deal“.

2. Schwerpunkt: Starthilfe für die europäische Wirtschaft und private Investitionen

  1. Solvenzhilfe für Firmen, die von der Regierung ihres Heimatlands keine Unterstützung bekommen, weil die Staatskassen leer sind.
  2. Aufstockung des europäischen Unternehmenskreditprogramms InvestEU der EIB.
  3. Hilfen für „strategische Investitionen“. Damit sind Wirtschaftszweige gemeint, die man aus politisch-strategischen Gründen unbedingt in Europa halten bzw. wiederaufbauen will, wie z.B. die Pharmaindustrie.

3. Schwerpunkt: Resilienz und geostrategische Überlegungen

  1. Mittel für die Gesundheitssysteme und für die Katastrophenhilfe der EU und ihrer Mitgliedstaaten.
  2. Gelder für die EU-Nachbarschafshilfe.

Die Finanzierung des Next Generation EU-Fonds soll durch einen neuen Beschluss zu den EU-Eigenmitteln rechtlich ermöglicht werden. Dazu muss das Europäische Parlament angehört und eine einstimmige Verabschiedung im Europäischen Rat erfolgen. Die Bundesregierung muss sich zuvor der Zustimmung des Bundestags versichern. Bislang sind die Eigenmittel der EU auf 1,2 % begrenzt.

Durch die Pandemie startet Europa geschwächt in das neue Jahrzehnt. Die 750 Mrd. Euro sollen deshalb vor allem in den ersten fünf Jahren des neuen EU-Haushalts 2021-2024 eingesetzt und damit auch in der noch laufenden IX. Legislaturperiode des Europäischen Parlaments abgeschlossen werden.

Die Rolle der Europäischen Zentralbank

Die EZB war bereits in der letzten Wirtschaftskrise der Rückhalt der europäischen Wirtschaft. Ohne das beherzte Eingreifen (Draghi: „whatever it takes“) der Zentralbank sähen die Eurozone und der Binnenmarkt heute anders aus. Die EZB vollzog bereits im letzten Jahrzehnt einen Paradigmenwechsel.

Auch in dieser Krisenphase war die EZB schnell dabei, Kreditbedingungen für die Eurozone zu erleichtern. Am 18. März startete sie das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) im Umfang von 750 Mrd. Euro um den Kapitalmarkt mit Geld zu versorgen. Die von der Politik diese Woche eingebrachten fiskalpolitischen Stimuli wurden in Frankfurt anerkennend registriert. Die Staats- und Regierungschefs folgen nun zum Schutz der gesamten europäischen Wirtschaft und dem hohen Lebensstandard der EuropäerInnen dem geldpolitischen Beispiel und ziehen mit einer neuen EU-Fiskalpolitik nach.

Insgesamt stellt „Europa“ 1.390 Mrd. Euro zur Krisenbewältigung zur Verfügung. Erstmals sollen 750 Mrd. Euro durch die EU-Kommission als Schulden aufgenommen werden. Passenderweise nennt die EU-Kommission diesen Schritt „Next Generation EU“. Nicht nur, dass die lange Laufzeit der Rückzahlung von 30 Jahren eine Generationenaufgabe darstellt; die Erweiterung der Eigenmittel ist ein fundamentaler Paradigmenwechsel, an dem sich künftige EntscheiderInnen orientieren werden.

Wie geht es weiter?

Die nächsten Monate werden voraussichtlich durch intensive Debatten begleitet. Die EU-Kommission hat einen mutigen und neuartigen Vorschlag auf Grundlage des deutsch-französischen Tandems vorgelegt, der bereits von einer Mehrheit der EU-Staaten positiv aufgenommen wurde.

Vieles wird davon abhängen, wie die deutsche Regierung mit dem Vorsitz der Ratspräsidentschaft als ehrlicher Makler zwischen den Philosophien, nationalen Interessen und europäischen Institutionen agieren wird. Bis Ende des Jahres muss der EU-Haushalt stehen und die Kommission mit neuer Eigenmittelerlaubnis ausgestattet sein. Dabei wird das Parlament in Straßburg selbstbewusst auftreten und eine Mitsprache bei der Ausgabe von EU-Eigenmitteln einfordern.