BFH, Urteil X K 1/24 vom 06.11.2024
Leitsatz
- Nach § 198 Abs. 2 Satz 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) besteht bei Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine „starke, aber widerlegbare“ Vermutung dafür, dass die unangemessen lange Dauer eines Gerichtsverfahrens zu einem Nichtvermögensnachteil geführt hat.
- Besteht ein solcher Nichtvermögensnachteil, ist die Zuerkennung einer Geldentschädigung ‑ über den Wortlaut des § 198 Abs. 2 Satz 2 GVG hinaus ‑ der Regelfall; eine Wiedergutmachung in anderer Weise, insbesondere durch die bloße Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer, stellt eine typischerweise in bestimmten Fallgruppen auftretende Ausnahme dar (Anschluss an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, zuletzt Urteil vom 26.10.2023 – B 10 ÜG 1/22 R, Neue Juristische Wochenschrift 2024, 1683, Rz. 23).
- Verzögerungsrügen (§ 198 Abs. 3 GVG) wirken im Regelfall nur gut sechs Monate zurück (Festhalten an der ständigen Rechtsprechung des Senats seit dem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 06.04.2016 – X K 1/15, BFHE 253, 205, BStBl II 2016 S. 694, Rz. 40 ff.).
- Eine auf § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG gestützte Abweichung vom gesetzlichen Regelbetrag der Entschädigung (nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG grundsätzlich 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung) setzt das Vorliegen besonderer Umstände voraus.
- Die in § 132, § 276, § 277 Abs. 3 der Zivilprozessordnung (ZPO) den Parteien auferlegten Einreichungs-, Stellungnahme- und Erwiderungsfristen sowie die Pflicht des Gerichts, Termine zur mündlichen Verhandlung unverzüglich zu bestimmen (§ 216 Abs. 2 ZPO), gelten im finanzgerichtlichen Verfahren nicht.
Quelle: Bundesfinanzhof