EuGH, Pressemitteilung vom 07.11.2019 zu den Urteilen C-349/18, C-350/18 und C-351/18 vom 07.11.2019
Steigt ein Fahrgast ohne Fahrkarte in einen Zug ein, schließt er einen Vertrag mit dem Beförderer.
Dies ist der Fall, wenn der Zug frei zugänglich ist.
Gemäß ihren Beförderungsbedingungen werden von der Nationalen Gesellschaft der belgischen Eisenbahnen (Nationale Maatschappij der Belgische Spoorwegen, NMBS) Fahrgäste, die ohne gültigen Beförderungsausweis eine Zugfahrt unternehmen, gebührenpflichtig verwarnt. Im Zeitraum der vorliegenden drei Fälle wurde den Fahrgästen die Möglichkeit angeboten, ihre Situation dadurch in Einklang mit den Vorschriften zu bringen, dass sie entweder sofort den Fahrpreis zuzüglich des als „Bordtarif“ bezeichneten Aufpreises oder innerhalb von vierzehn Tagen nach dem festgestellten Verstoß einen Pauschalbetrag von 75 Euro zahlen. Nach Ablauf dieser 14-tägigen Frist bestand noch die Möglichkeit, einen Pauschalbetrag von 225 Euro zu zahlen.
Die drei in den vorliegenden Fällen gebührenpflichtig verwarnten Fahrgäste machten von keiner dieser Möglichkeiten Gebrauch. Daher verklagte die NMBS sie beim Vredegerecht te Antwerpen (Friedensgericht Antwerpen, Belgien), damit sie zur Zahlung von 880,20 Euro, 1.103,90 Euro bzw. 2.394 Euro an sie verurteilt werden. Im Rahmen dieser Klagen machte die NMBS geltend, die Rechtsverhältnisse zwischen ihr und jedem der fraglichen Fahrgäste seien nicht vertraglicher, sondern verwaltungsrechtlicher Natur, da sie keinen Beförderungsausweis gekauft hätten.
Das Friedensgericht möchte wissen, welcher Art das Rechtsverhältnis zwischen der NMBS und den Fahrgästen ohne Beförderungsausweis ist. Insoweit wird die Frage gestellt, ob die unionsrechtliche Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr dahin auszulegen ist, dass eine Situation, in der ein Fahrgast in einen Zug einsteigt, um eine Fahrt zu unternehmen, ohne sich eine Fahrkarte besorgt zu haben, unter den Begriff „Beförderungsvertrag“ im Sinne dieser Verordnung fällt1. Falls ja, ist zudem anhand der Richtlinie über missbräuchliche Vertragsklauseln festzustellen, ob das Gericht, das die Missbräuchlichkeit einer in einem Vertrag zwischen einem Gewerbetreibenden und einem Verbraucher vorgesehenen Vertragsstrafeklausel feststellt, die Höhe der Vertragsstrafe mäßigen darf2.
In seinem Urteil vom 7. November 2019 stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass sowohl das Eisenbahnunternehmen – durch die Gewährung des freien Zugangs zu seinem Zug – als auch der Fahrgast – durch den Einstieg in den Zug, um eine Fahrt zu unternehmen – ihre deckungsgleichen Willen bekunden, ein Vertragsverhältnis einzugehen.
Hinsichtlich der Frage, ob der Besitz einer Fahrkarte durch den Fahrgast eine unerlässliche Voraussetzung für die Annahme ist, dass ein „Beförderungsvertrag“ besteht, stellt der Gerichtshof fest, dass die Fahrkarte nur das Instrument ist, das den Beförderungsvertrag verkörpert. Der Begriff „Beförderungsvertrag“ ist unabhängig vom Besitz einer Fahrkarte durch den Fahrgast und umfasst daher eine Situation, in der ein Fahrgast in einen frei zugänglichen Zug einsteigt, um eine Fahrt zu unternehmen, ohne sich eine Fahrkarte besorgt zu haben. Da die Verordnung Nr. 1371/2007 insoweit keine Bestimmungen enthält, lässt diese Auslegung indessen die Gültigkeit dieses Vertrags oder die Folgen unberührt, die mit der Nichterfüllung der vertraglichen Pflichten durch eine der Parteien verbunden sein können, die weiterhin dem anwendbaren nationalen Recht unterliegen.
Hinsichtlich der Befugnis des nationalen Gerichts, die gegebenenfalls missbräuchliche Vertragsstrafeklausel zu mäßigen, stellt der Gerichtshof fest, dass diese Teil der Allgemeinen Beförderungsbedingungen der NMBS ist, hinsichtlich deren das nationale Gericht klarstellt, dass sie „aufgrund ihres normativen Charakters … als allgemein verbindlich angesehen werden“ und Gegenstand einer „amtlichen Veröffentlichung des Staates“ sind. Vertragsklauseln, die u. a. auf bindenden Rechtsvorschriften beruhen, unterliegen nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie.
Diese Ausnahme vom Anwendungsbereich der Richtlinie hängt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedoch vom Vorliegen zweier Voraussetzungen ab. Erstens muss die Vertragsklausel auf einer Rechtsvorschrift beruhen, und zweitens muss diese Rechtsvorschrift bindend sein. Die Prüfung des Vorliegens dieser Voraussetzungen fällt in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts. Für den Fall, dass das nationale Gericht der Ansicht ist, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind und die Vertragsstrafeklausel daher in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt, weist der Gerichtshof darauf hin, dass es die Höhe der für missbräuchlich erachteten Vertragsstrafe nicht mäßigen darf und diese Klausel auch nicht in Anwendung nationaler vertragsrechtlicher Grundsätze durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts ersetzen darf, sondern sie grundsätzlich unangewendet lassen muss, es sei denn, der betreffende Vertrag kann bei Wegfall der missbräuchlichen Klausel nicht fortbestehen und die Nichtigerklärung des gesamten Vertrags setzt den Verbraucher besonders nachteiligen Folgen aus.
Fußnoten
1 Art. 3 Nr. 8 der Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr (ABl. 2007, L 315, S. 14).
2 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).