Schwerbehindertenrecht - 10. Februar 2020

Zuerkennung des Merkzeichens aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung bei Autismus

SG Gießen, Pressemitteilung vom 10.02.2020 zum Urteil S 16 SB 110/17 vom 30.01.2020 (nrkr)

Das Merkzeichen aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung eines schwerbehinderten Menschen setzt voraus, dass die Einschränkung der Gehfähigkeit dauerhaft besteht. Bei einer Hirnleistungsschwäche (hier: Autismus und Entwicklungsverzögerung) kann von einer verminderten Gehfähigkeit als Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens aG dann ausgegangen werden, wenn der Betroffene aufgrund der Auswirkungen seiner Erkrankung auch mit einer verantwortungsbewussten Begleitperson nicht mehr geführt werden kann, sondern eine Beförderung mit einem Reha-Buggy erforderlich ist.

Der Sachverhalt

Der 2013 geborene im Landkreis Gießen lebende Kläger leidet an einem schwerstgradig ausgeprägten Autismussyndrom und ist nicht in der Lage Handlungen zu planen und alleine durchzuführen. Er kann sich alleine weder orientieren noch Gefahren einschätzen und muss die gesamte Zeit beaufsichtigt werden. Eine erwachsene Person allein kann den Kläger trotz voller Umklammerung des Oberkörpers praktisch nicht festhalten.

Der Beklagte lehnte mit den angefochtenen Bescheiden vom 24.01.2017 und 24.03.2017 die Feststellung des Merkzeichens aG ab. Mit der im April 2017 erhobenen Klage macht der Kläger geltend, er sei dem aG-berechtigten Personenkreis gleichzustellen.

Die Entscheidung

Nach weiteren umfassenden Ermittlungen gab die 16. Kammer des Sozialgerichts Gießen der Klage statt. Die Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung seien in § 229 Abs. 3 SGB IX geregelt.

Der Kläger gehöre zwar nicht zu dem im Gesetz beschriebenen Personenkreis, wenn lediglich auf sein physisch mögliches Gehen abgestellt werde.

Im Hinblick auf seine mentale Beeinträchtigung (schwerstgradig ausgeprägtes Autismussyndrom) sei er diesem Personenkreis jedoch gleichzustellen. Denn er sei nicht in der Lage selbständig zielgerichtet auch unter Zuhilfenahme einer Begleitperson eine auch nur geringfügige Strecke zurückzulegen. Bei der ausgeprägten mentalen Behinderung des Klägers sei jederzeit damit zu rechnen, dass er sich von der jeweiligen Begleitperson losreiße, von dieser weglaufe oder in impulsiven/aggressiven Ausbrüchen gegen die Begleitperson oder Dritte losgehen könnte.