Gebot der Chancengleichheit - 9. Dezember 2019

Zu den Grenzen von Prüfungserleichterungen für schwerbehinderte Prüflinge

VG Gießen, Pressemitteilung vom 06.12.2019 zum Urteil 8 K 3432/17 vom 19.11.2019 (nrkr)

Die 8. Kammer des Verwaltungsgerichts Gießen hat in einem am 19. November verkündeten Urteil, das jetzt mit der schriftlichen Begründung vorliegt, die Klage eines schwerbehinderten Prüflings abgewiesen, der für seine Abschlussprüfung zum Verkäufer als Nachteilsausgleich eine persönliche Assistenz begehrt, die für ihn Prüfungsfragen in sog. einfache Sprache überträgt und ihm Unterstützung bei der Formulierung seiner Antworten auf diese Fragen gibt.

Der aus dem Wetteraukreis stammende Kläger, der nach einer Hirnblutung an den Folgeschäden einer Gesichtsfeldeinschränkung und einer Sprachstörung (Aphasie) leidet, hatte in der Vergangenheit für seine schriftlichen Prüfungen bereits Zeitverlängerungen um ein Drittel der Prüfungszeit erhalten, die die Industrie- und Handelskammer nach einem der mündlichen Verhandlung vorausgegangenen Erörterungstermin vor dem Gericht auf 50 % der Prüfungszeit verlängert hatte. Außerdem wurden die Prüfungsaufgaben für ihn optisch vergrößert.

Die Bereitstellung einer persönlichen Assistenz für die mündliche Prüfung lehnte das Verwaltungsgericht nach Auswertung fachärztlicher Gutachten und Anhörung der Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Menschen mit Behinderungen jedoch ab.

Zwar gebiete das Gebot auf Chancengleichheit, dass bei Prüfungen die besonderen Verhältnisse behinderter Menschen berücksichtigt werden müssten. Ihnen sei daher grundsätzlich ein Nachteilsausgleich zu gewähren, um chancengleiche äußere Bedingungen für die Erfüllung der Leistungsanforderungen herzustellen Dies finde aber seine Grenzen, wenn durch den Nachteilsausgleich – hier in Form der geforderten persönlichen Assistenz – der wahre Leistungsstand im Vergleich zu den Mitprüflingen nicht mehr ermittelbar wäre. Die Gewährung eines Nachteilsausgleichs scheide mithin aus, wenn die Einschränkungen, denen der Betroffene unterworfen ist, den Kernbereich der Fähigkeiten beträfen, die mit der jeweiligen Prüfung gerade festgestellt werden sollen (Beispiel: Eine Person, die blind ist, kann nicht Berufskraftfahrer werden).

Nach Ansicht der Kammer spreche im Falle des Klägers einiges dafür, dass seine sprachlichen Einschränkungen einen Kernbereich des Leistungsbildes seines Ausbildungsberufes beträfen. In diesem Fall sei die hier begehrte Form des Nachteilsausgleichs rechtlich nicht zulässig. Denn durch den Nachteilsausgleich in Form einer persönlichen Assistenz, die Fragen vereinfache und damit u. U. auch Inhalt und Aufgabenstellung verändere, und zudem Hilfe bei der Formulierung von Antworten leiste, wäre der wahre Leistungsstand des Klägers im Vergleich zu seinen Mitprüflingen nicht mehr ermittelbar.

Die Kammer hat die Berufung zugelassen.

Das Urteil (vom 19. November 2019, 8 K 3432/17.GI) ist noch nicht rechtskräftig. Die Beteiligten können dagegen binnen eines Monats Berufung beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel einlegen.