Sozialrecht - 16. Februar 2021

Zahlung eines Betrugsopfers von mehr als 25.000 Euro an Heiratsschwindler nicht sozialwidrig

LSG Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 15.02.2021 zum Urteil L 9 AS 98/18 vom 20.10.2020

Jobcenter scheitert mit Geltendmachung eines Ersatzanspruchs gegenüber Hartz IV-Empfängerin – Landessozialgericht hebt Bescheid des Jobcenters auf Geltendmachung eines Ersatzanspruchs gegenüber einer Hartz IV-Empfängerin auf, die einem Heiratsschwindler (sog. Romance Scamming) mehr als 25.000 Euro zahlte und hierdurch mittellos wurde.

Die 62-jährige Klägerin K hat nach eigenen Angaben eine Ausbildung zur Bürokauffrau abgeschlossen. Zuletzt war sie im Jahr 2010 als Empfangskraft und bis März 2015 im Kundenservice beschäftigt. Seit Dezember 2014 vertreibt sie Nahrungsergänzungsmittel auf Provisionsbasis. Von November 2016 bis Januar 2017 zahlte sie einen Gesamtbetrag in Höhe von 24.000 Euro (nach eigenen Angaben aus dem Erbe ihrer verstorbenen Mutter) auf Konten des sich im Ausland aufhaltenden Herrn M, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben habe aufbauen wollte.

K gab in der Folgezeit an, sie habe die Zahlungen ins Ausland an einen „Agenten“ des M angewiesen. Sie habe M in einer finanziellen Notlage geholfen und ihm das Geld geliehen. Sie erwarte, wie ausgemacht, das geliehene Geld zurück. Ein schriftlicher Darlehensvertrag sei nicht abgeschlossen worden. Nachdem sie angab, auf die nach Großbritannien transferierten Gelder nicht zugreifen zu können, bewilligte ihr das Jobcenter vorläufig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II von Februar 2017 an i. H. v. monatlich knapp 770 Euro.

Mit weiterem Bescheid stellte der Beklagte gegenüber K einen nicht bezifferten Ersatzanspruch nach § 34 SGB II hinsichtlich der bewilligten Leistungen fest: Sie habe ihr Vermögen vermindert, weil sie im Zeitraum von November 2016 bis Januar 2017 einen Gesamtbetrag in Höhe von 24.000 Euro ins Ausland transferiert habe, ohne sich die Rückzahlung dieser Beträge z. B. in Form eines Darlehensvertrags zu sichern. Wer seit einem Jahr keine Einnahmen mehr erziele, keine Erwerbstätigkeit in Aussicht habe und dennoch sämtliche Ersparnisse ins Ausland transferiere, um dann einen Monat später einen Antrag auf SGB II-Leistungen zu stellen, handle grob fahrlässig. Unter Zugrundelegung eines aktuellen monatlichen Bedarfs von rund 770 Euro hätte das transferierte Geld 31 Monate zur Deckung des Lebensunterhalts gereicht. K sei zum Ersatz der deswegen erbrachten Grundsicherungsleistungen verpflichtet. Umfang und Höhe der zu ersetzenden Leistungen würden in einem gesonderten Bescheid mitgeteilt.

Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Auf die Berufung der K hat der 9. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg den Bescheid auf Geltendmachung eines unbezifferten Ersatzanspruchs aufgehoben: Ein Ersatzanspruch nach § 34 Abs. 1 SGB II setze ein sozialwidriges Verhalten voraus. K habe sich hier aber nicht sozialwidrig verhalten. Hierunter falle nur das absichtliche Herbeiführen der Hilfebedürftigkeit. Es obliege aber grundsätzlich nicht den staatlichen Stellen zu prüfen, ob die Hilfebedürftigkeit nachvollziehbar, naiv, unbedacht oder moralisch verwerflich entstanden sei. Die Grenze sei vielmehr erst da zu ziehen, wo Vermögen kausal zum Zwecke der Herbeiführung der Hilfebedürftigkeit verschwendet werde. Anhaltspunkte hierfür lägen nicht vor. Vielmehr dürfte K selbst Opfer einer Straftat geworden sein. Auch wenn K hätte misstrauisch werden und das drehbuchartige Vorgehen des M durch eine Internetrecherche unschwer hätte erkennen müssen, sei nicht K allein hierauf hereingefallen. Charakteristisch für Betrugsopfer dürfte sein, dass deren Verhalten für Außenstehende und im Nachhinein objektiv nicht nachvollziehbar sei. Das Verhalten sei deswegen aber nicht als sozialwidrig anzusehen. Im Übrigen könne tauglicher Gegenstand einer Grundlagenentscheidung nach § 34 SGB II nur ein feststellender Verwaltungsakt zur Sozialwidrigkeit des für den Ersatzanspruch maßgeblichen Verhaltens sein. Das Jobcenter sei daher nicht ermächtigt gewesen, vorab abschließend Ersatzpflichten dem Grunde nach zu begründen.

Hinweis zur Rechtslage

Nach § 34 Abs. 1 SGB II in der ab dem 01.08.2016 geltenden und hier maßgeblichen Fassung ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- oder Sachleistungen verpflichtet. Als Herbeiführung gilt auch, wenn die Hilfebedürftigkeit erhöht, aufrechterhalten oder nicht verringert wurde. Der Ersatzanspruch umfasst auch die geleisteten Beiträge zur Sozialversicherung. Von der Geltendmachung eines Ersatzanspruchs ist abzusehen, soweit sie eine Härte bedeuten würde.

Quelle: LSG Baden-Württemberg