EU-Recht - 26. November 2019

Wer ist Arbeitgeber von abhängig beschäftigten Lkw-Fahrern im internationalen Straßentransport?

EuGH, Pressemitteilung vom 26.11.2019 zum Schlussantrag C-610/18 vom 26.11.2019

Nach Auffassung von Generalanwalt Pikamäe ist Arbeitgeber von abhängig beschäftigten Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport das Transportunternehmen, das sie auf unbestimmte Zeit eingestellt hat, eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber ihnen ausübt und faktisch die Gehaltskosten zu tragen hat.

AFMB ist eine am 11. Mai 2011 in Zypern gegründete Gesellschaft, die Verträge mit Transportunternehmen und Fahrern, die in den Niederlanden ansässig sind, geschlossen hat. Zwischen AFMB und diesen Fahrern einerseits und dem Raad van bestuur van de Sociale verzekeringsbank (Verwaltungsrat der Sozialversicherungsanstalt, im Folgenden: RSVB, Niederlande) andererseits besteht ein Rechtsstreit wegen der Entscheidung des RSVB, wonach auf diese Fahrer nicht die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns, sondern der Niederlande anwendbar seien.

Der RSVB stellte zwischen Oktober 2013 und Juli 2014 Bescheinigungen aus, in denen er attestierte, dass auf die betreffenden Arbeitnehmer die sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften der Niederlande anwendbar seien. Er war der Ansicht, dass die niederländischen Transportunternehmen, die die ihnen für unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Fahrer eingestellt hätten, gegenüber den Fahrern die tatsächliche Weisungsbefugnis ausübten und faktisch die Lohnkosten zu tragen hätten, für die Zwecke der Anwendung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit als „Arbeitgeber“ anzusehen seien.

AFMB tritt dem vom RSVB vertretenen Standpunkt entgegen und macht geltend, dass die mit den Fahrern geschlossenen Arbeitsverträge den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften Zyperns unterlägen, da in diesen Verträgen AFMB ausdrücklich als „Arbeitgeber“ bezeichnet sei, auch wenn diese Fahrer gewöhnlich niederländischen Transportunternehmen zur Verfügung stünden, mit denen AFMB Flottenmanagementverträge geschlossen habe.

Der von AFMB angerufene Centrale Raad van Beroep (Berufungsgericht in Sachen der sozialen Sicherheit und des öffentlichen Dienstes, Niederlande), bei dem das Verfahren gegenwärtig anhängig ist, hat sich an den Gerichtshof gewandt, weil er der Auffassung ist, dass die Entscheidung des Rechtsstreits u. a. von der Auslegung der Unionsvorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit abhänge. Er bittet den Gerichtshof um Erläuterungen zu der Frage, wer „Arbeitgeber“ der Fahrer ist – die in den Niederlanden ansässigen Transportunternehmen oder AFMB.

In seinen Schlussanträgen vom heutigen Tag weist Generalanwalt Priit Pikamäe darauf hin, dass die Union ein vollständiges und einheitliches System von Vorschriften zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit errichtet habe, dessen Ziel es sei, die Arbeitnehmer, die innerhalb der Union zu- und abwanderten, dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats zu unterstellen. Mit diesen Vorschriften werde bezweckt, Kumulierungen der anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften zu vermeiden und Situationen zu verhindern, in denen der sozialversicherungsrechtliche Schutz von in den Anwendungsbereich dieser Verordnungen fallenden Personen entfiele, wenn auf sie keine Rechtsvorschriften anwendbar wären.

Gemäß der Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit1 sei Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des anwendbaren nationalen Rechts der Sitz des Arbeitgebers. Der Begriff „Arbeitgeber“ sei durch das Unionsrecht nicht definiert. Die Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verwiesen zur Ermittlung des Sinns und der Bedeutung dieses Begriffs auch nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten.

Generalanwalt Pikamäe hat zunächst eine Reihe von Kriterien, insbesondere aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, ermittelt und sodann festgestellt, dass die Vertragsbeziehung, nach der AFMB formal betrachtet Arbeitgeber der Fahrer wäre, lediglich einen Anhaltspunkt liefere und es berechtigt erscheine, die Arbeitgebereigenschaft, auf die sich AFMB berufe, in Frage zu stellen. Zudem seien die betreffenden Fahrer sowohl vor als auch nach den Zeiträumen, auf die der RSVB abgestellt habe, als Fahrer im internationalen Straßentransport abhängig beschäftigt gewesen und ausschließlich Lastkraftwagen auf Rechnung und Risiko von Transportunternehmen gefahren, die in den Niederlanden ansässig gewesen seien. Was die Gehaltskosten betreffe, habe zwar AFMB Gehalt unmittelbar an die Fahrer gezahlt, dieses sei aber offenbar von den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen finanziert worden, die gemäß den Vereinbarungen, die sie mit AFMB geschlossen hätten, bestimmte Beträge an diese zu leisten gehabt hätten.

Als Arbeitgeber von Lastkraftwagenfahrern im internationalen Straßentransport sei folglich das Transportunternehmen anzusehen, das den Betreffenden eingestellt habe, dem der Betreffende tatsächlich auf unbestimmte Zeit uneingeschränkt zur Verfügung stehe, das eine tatsächliche Weisungsbefugnis gegenüber dem Betreffenden ausübe und das faktisch die Gehaltskosten zu tragen habe, vorbehaltlich der tatsächlichen Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen habe.

Der Generalanwalt prüft anschließend trotz des Entscheidungsvorschlags hinsichtlich der Arbeitgebereigenschaft von AFMB die beiden übrigen Fragen, die der Centrale Raad van Beroep vorgelegt hat. Diese Fragen betreffen zum einen die Möglichkeit, auf die betreffenden Fahrer die Regelung über entsandte Arbeitnehmer anzuwenden, und zum anderen das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs durch die zyprische Gesellschaft.

Der Generalanwalt macht deutlich, dass es sich nicht um eine „Entsendung“ im eigentlichen Sinne handele, sondern AFMB den in den Niederlanden ansässigen Unternehmen Arbeitnehmer auf unbestimmte Zeit „zur Verfügung stellt“, wobei sich die Rolle, die AFMB gegenüber den Fahrern spiele, im Wesentlichen auf die Zahlung des Gehalts und die Leistung der Sozialbeiträge an die zyprische Behörde beschränkt habe. Er schlägt daher vor, die Frage des niederländischen Gerichts zu verneinen.

Zu der Frage des Rechtsmissbrauchs führt der Generalanwalt aus, dass AFMB die Arbeitgebereigenschaft durch eine ausgeklügelte Konstruktion des Privatrechts erlangt habe. Dagegen hätten ihre Vertragspartner die tatsächliche Kontrolle gegenüber den Arbeitnehmern ausgeübt, was normalerweise unter die Befugnisse des Arbeitgebers im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses falle. Zudem habe sich AFMB auf die Grundfreiheiten des Binnenmarkts berufen können, um sich in Zypern niederzulassen und von dort aus Dienstleistungen an in den Niederlanden ansässige Unternehmen zu erbringen. Außerdem scheine die Umsetzung dieser rechtlichen Konstruktion zu einer Verschlechterung des Sozialversicherungsschutzes der Fahrer geführt zu haben, während die früheren Arbeitgeber daraus offenbar Vorteile bei den Gehaltskosten gezogen hätten. Der Generalanwalt gelangt zu dem Schluss, dass – vorbehaltlich der vom Centrale Raad van Beroep vorzunehmenden Würdigung – ein Rechtsmissbrauch vorliege, der es AFMB verbiete, sich auf ihre angebliche Arbeitgebereigenschaft zu berufen, um beim RSVB zu beantragen, die zyprischen Rechtsvorschriften für auf die betreffenden Fahrer anwendbar zu erklären.

Fußnote

1 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1).