OLG Schleswig-Holstein, Pressemitteilung vom 22.11.2019 zum Urteil 17 U 44/19 vom 22.11.2019
Die Käuferin eines Gebrauchtwagens, in dem der Dieselmotor der Baureihe EA 189 verbaut ist, kann von der Volkswagen AG die Zahlung von Schadensersatz wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung verlangen. Das hat der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts in einer ersten Entscheidung zur Haftung des Motorenherstellers nach § 826 BGB im Zusammenhang mit dem „Dieselabgas-Skandal“ am 22. November 2019 entschieden.
Zum Sachverhalt
Die Klägerin kaufte im August 2009 von einem Fahrzeughändler einen gebrauchten Pkw VW Golf 6 Trendline 2,0 TDI zu einem Preis von 24.100 Euro. Das Fahrzeug wies zum Kaufzeitpunkt einen Kilometerstand von 7.000 auf. In dem Fahrzeug ist ein Dieselmotor der Baureihe EA 189 verbaut, deren Hersteller die Beklagte ist. Im November 2017 forderte die Klägerin die Beklagte zur Erstattung des Kaufpreises abzüglich der gezogenen Nutzungen auf. Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Fahrzeugs und die Erstattung des Kaufpreises ab. Im Juli 2018 ließ die Klägerin das von der Beklagten angebotene Software-Update aufspielen, da sonst die Stilllegung des Fahrzeugs drohte. Vor dem Landgericht Lübeck verlangte die Klägerin sodann u. a. die Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeuges abzüglich einer Nutzungsentschädigung. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin vor dem Oberlandesgericht hatte Erfolg. Der 17. Zivilsenat des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts hat der Klage überwiegend stattgegeben und die Beklagte zur Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Rückgabe des Fahrzeugs und Zahlung einer Nutzungsentschädigung verurteilt.
Aus den Gründen
Der Anspruch der Klägerin auf Erstattung des von ihr gezahlten Kaufpreises ergibt sich aus §§ 826, 31 BGB. Die Beklagte hat durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs gegen die guten Sitten verstoßen. In dem Fahrzeug ist eine gesetzlich unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. II VO (EG) Nr. 715/2007 verbaut. Der Einbau dieser Abschaltvorrichtung stellt unter mehreren Gesichtspunkten ein verwerfliches Verhalten dar. So hat die Beklagte zielgerichtet die Entwicklung einer gesetzlich unzulässigen Abschalteinrichtung vorangetrieben, damit die Baureihe die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerte für Stickoxid im Prüfstand einhalten und so eine Typgenehmigung erhalten konnte. Diese Software war darüber hinaus für den Käufer nicht erkennbar, sodass die Beklagte von einem geringen Entdeckungsrisiko ausgehen konnte, was wiederum zu einem erhöhten Schadenspotenzial führt. Überdies hat die Beklagte noch nach der Aufdeckung der vorsätzlichen Gesetzesverstöße in der Ad-hoc-Mitteilung vom 22. September 2015 nur von „Unregelmäßigkeiten“ der Software gesprochen, ohne offen zuzugeben, dass sie bewusst eine gesetzlich unzulässige Abschalteinrichtung eingebaut hat. Haftungsbegründend ist es aber insbesondere, dass die Beklagte durch das Inverkehrbringen derartiger Fahrzeuge in besonders krassem Maße eine Erwartungshaltung der Käufer enttäuscht hat, die sie selbst zuvor maßgeblich mit hervorgerufen hatte. So hat der Käufer eines Kraftfahrzeugs, dessen Hersteller bereits Jahrzehnte erfolgreich am Markt tätig ist, die erkennbare Erwartungshaltung, ein sowohl den gesetzlichen Vorschriften entsprechendes als auch technisch ausgereiftes und daher langlebiges Fahrzeug zu kaufen.
Auch wenn nicht feststeht, welcher Mitarbeiter der Beklagten für die Entwicklung und den Einsatz der unzulässigen Abschaltungsvorrichtung verantwortlich ist, muss sich die Beklagte den Einbau in entsprechender Anwendung des § 31 BGB zuzurechnen lassen. Der Behauptung der Klägerin, dass der damalige Vorstandsvorsitzende Dr. Martin Winterkorn bereits im Jahre 2008 Kenntnis von der streitgegenständlichen Software gehabt habe, ist die Beklagte nicht ausreichend entgegengetreten. Es ist naheliegend und ergibt sich aus der gesetzlichen Grundkonzeption der Verantwortlichkeiten innerhalb einer Aktiengesellschaft, dass der Vorstand an der Entscheidung über den Einsatz der Software beteiligt war. Die Beklagte hätte deshalb durch eine detaillierte und nachvollziehbare Darstellung der Geschehensabläufe darlegen müssen, aus welchen Gründen die Verantwortlichen und insbesondere der Vorstand der Beklagten keine Kenntnis vom Einsatz der Umschaltsoftware hatten. Daran fehlt es.
Der Klägerin ist ein Schaden schon dadurch entstanden, dass sie ein Fahrzeug erworben hat, das sie in Kenntnis der wahren Tatsachen nicht erworben hätte. Insoweit ist ungewiss, welche Auswirkungen der dauerhafte Betrieb des Motors in einem ursprünglich nur für den Prüfstandlauf entwickelten Betriebsmodus auf die Haltbarkeit des Motors und des Fahrzeugs insgesamt haben wird. Gerade weil die Beklagte in verwerflicher Weise unter vorsätzlicher Begehung von Gesetzesverstößen die Ursache für die nachvollziehbaren Befürchtungen der Klägerin gesetzt hat, ist es gerechtfertigt, bereits den Abschluss eines solchen Vertrags als Schaden einzuordnen. Das Verhalten der Beklagten ist auch ursächlich für die Entstehung dieses Schadens. Beim Erwerb eines noch „jungen“ Gebrauchtwagens von einem VW-Vertragshändler spricht bereits die Lebenswahrscheinlichkeit dafür, dass die von der Beklagten hervorgerufene Erwartungshaltung eines Käufers zumindest mitursächlich für die Kaufentscheidung war.
Der Schaden, der sich daraus ergibt, dass sich die Klägerin an einem Vertrag festhalten lassen muss, den sie in Kenntnis des sittenwidrigen Verhaltens der Beklagten so nicht abgeschlossen hätte, ist durch das Aufspielen des Software-Updates im Juli 2018 nicht entfallen. Der Schaden in Form der Eingehung einer Vertragsbeziehung steht im Übrigen auch offenkundig in einem inneren Zusammenhang mit dem sittenwidrigen Verhalten selbst. Gerade bei technischen Geräten, die ein Endkunde nicht ohne weiteres selbst auf Funktionalität und Einhaltung gesetzlicher Vorschriften überprüfen kann, muss der Kunde darauf vertrauen dürfen, dass der Hersteller bei Entwicklung und Herstellung die größtmögliche Sorgfalt walten lässt und insbesondere nicht vorsätzlich gesetzliche Normen verletzt.
Steht der Klägerin somit ein Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs zu, so muss sich die Klägerin nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung die von ihr gezogenen Nutzungen anrechnen lassen. Bei der Berechnung dieser Nutzungen geht der Senat von einer durchschnittlichen Fahrleistung des streitgegenständlichen Dieselfahrzeugs von 300.000 km aus.
Der Zahlungsanspruch der Klägerin ist auch zu verzinsen, jedoch erst ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der Klage und nicht schon ab dem Zeitpunkt der Kaufpreiszahlung. Zwar wurde der Klägerin aufgrund der vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung durch die Beklagte der Kaufpreis im Sinne von § 849 BGB entzogen. Allerdings erhielt sie dafür eine andere Sache zur Nutzung überlassen, nämlich das fahrbereite und im Übrigen voll funktionsfähige Fahrzeug, sodass die fehlende Nutzbarkeit der Kaufsumme in der Folgezeit ausreichend kompensiert worden ist.
Die Revision wurde zugelassen.