Zivilrecht - 22. November 2019

Suizidgefahr vor Eigenbedarf

AG München, Pressemitteilung vom 22.11.2019 zum Urteil 411 C 19436/18 vom 22.11.2019 (nrkr)

Einer Kündigung wegen Eigenbedarfs steht hier eine für den Fall einer Räumungspflicht positiv festgestellte Selbstmordgefahr entgegen.

Das Amtsgericht München weist durch Urteil vom 22.11.2019 die Klage gegen den gerade noch 89-jährigen Mieter auf Räumung und Herausgabe an die auf Eigenbedarf klagende nunmehrige Vermieterin ab und ordnet die Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Dauer an.

Der Beklagte hatte mit seiner damals noch lebenden Ehefrau vom Voreigentümer 1975 eine Drei-Zimmer-Wohnung, 1. OG, 80 qm, in München-Neuperlach angemietet und zahlt dafür zuzüglich Garage an die Klägerin aktuell 996,89 Euro monatlich warm.

Die Vermieterin bewohnt mit ihrer erwachsenen Tochter eine Zwei-Zimmer-Wohnung, während ihr ebenfalls erwachsener Sohn nach Trennung von seiner Freundin ein 9 qm großes Zimmer bei seinem Vater bewohnt. Dieser Sohn hatte in zwei familiengerichtlichen Verfahren nun drei Tage Umgang mit dem gemeinsamen Kind erreicht, davon einmal mit Übernachtung bei ihm. In der 52 qm Wohnung des Opas muss für letztere jeweils umgebaut werden.

Die Klägerin kündigte dem Beklagten mit Schreiben vom 24.02.2018 unter Benennung des geschilderten Eigenbedarfs zum 30.11.2018.

In seinem Namen legte der Mieterverein München e.V. mit Schreiben vom 26.09.2018, dessen Zugang innerhalb der gesetzlichen Sechsmonatsfrist bei der Klägerin streitig war, Widerspruch gegen die Eigenbedarfskündigung ein und benennt dort als Härtegründe Hüft- und Kniegelenkserkrankungen sowie seine langjährige Verwurzelung im Wohnumfeld.

Die Klägerin behauptet, dass der Beklagte in der näheren Umgebung eine Ersatzwohnung finden könne, wenn er sich nur ausreichend darum bemühe. Die Wohnung sei nur über mehrere Treppenstufen erreichbar, also nicht altersgerecht. Man würde den Beklagten tatkräftig bei seinem Umzug unterstützen, der überdies ja noch zweimal die Woche nach Riem fahren könne, um dort im Tierheim zu helfen.

Der Beklagte gibt an, seit der Kündigung fünf Kilo abgenommen und auf 26 Bewerbungen nur Absagen erhalten zu haben. Einer Rücknahme der Klage, von der Klägerin nach Eingang des gerichtlich erholten Sachverständigengutachtens erklärt, stimmt er nicht zu.

Die zuständige Richterin am Amtsgericht München gab dem Beklagten Recht.

„Die Anhörung der Beteiligten und die durchgeführte Beweisaufnahme hat zwar zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der behauptete Eigenbedarf tatsächlich besteht.“ Die Klägerin und ihr Sohn hätten bei ihrer Vernehmung für das Gericht glaubwürdig und glaubhaft ausgesagt, dass der Sohn die streitgegenständliche Wohnung für sich und das Umgangsrecht mit seinem Sohn benötigt und dort einziehen möchte. „Sein zweijähriges Kind benötige ein stabiles Umfeld für den Umgang. (…)

Der Mieter kann allerdings gemäß § 574 BGB einer an sich gerechtfertigten ordentlichen Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter eine Härte bedeuten würde, die auch unter der Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.“ Nach der Beweisaufnahme sei der Widerspruch rechtzeitig erfolgt. „Vorliegend hat der Beklagte bisher noch keine ausreichenden Bemühungen unternommen, eine Ersatzwohnung zu finden. (…) Die Beweisaufnahme hat (…) zur Überzeugung des Gerichts ergeben, dass der Beklagte entsprechend dieser langen Wohndauer in dem Viertel Neuperlach stark verwurzelt ist. (…) Letztlich war in der Abwägung ausschlaggebend das Ergebnis des schriftlichen Gutachtens des vom Gericht bestellten Sachverständigen (…). Danach wurde der psychische Gesundheitszustand des Beklagten schon als Folge der Kündigung bereits erheblich beeinträchtigt. Hierdurch hat sich eine mittelschwere depressive Episode manifestiert. Durch einen Umzug würde sich sein psychisches Befinden aller Wahrscheinlichkeit nach noch weiter verschlechtern, bis hin zu einer schweren depressiven Episode, bei der auch ein Suizid nicht ausgeschlossen werden kann. (…) Zu keinem Zeitpunkt der Untersuchung bestand ein Anhaltspunkt, dass der Beklagte seine Beschwerden stärker beschreiben würde als sie vorliegen oder gar simulieren würde. (…) Für den Fall, dass er aus seiner Wohnung ausziehen müsste, wird konkret der Suizid erwogen. (…) Es handelt sich bei ihm um einen alten, alleinstehenden Mann mit einer depressiven Episode und einem ungelösten Problem, nämlich dem Verlust seiner Wohnung und seines Lebensmittelpunktes. Er ist daher als erheblich gefährdet anzusehen. Unter Berücksichtigung dieser Gefährdung ist eine Räumung der Wohnung für den Beklagten nicht zumutbar. Nachdem auch nicht absehbar ist, ob und wann die festgestellte Gefährdung nicht mehr besteht, war das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortzusetzen.“

Das Urteil ist nicht rechtskräftig.