EU-Recht - 9. Juni 2021

Staatliche Beihilfen an grenznahe norddeutsche Getränkehändler (hier: Dänemark)

EuG, Pressemitteilung vom 09.06.2021 zum Urteil T-47/19 vom 09.06.2021

Das Gericht erklärt den Beschluss der Kommission, mit dem festgestellt wird, dass die Nichterhebung eines Pfands auf bestimmte Verpackungen von Getränken, die in grenznahen deutschen Geschäften an in Dänemark ansässige Kunden verkauft werden, keine staatliche Beihilfe darstellt, für nichtig.

Die Kommission war nicht in der Lage, in der Vorphase alle ernsthaften Schwierigkeiten auszuräumen, auf die sie bei der Bestimmung, ob die Nichterhebung eines Pfands eine staatliche Beihilfe darstellt, gestoßen war.

Die auf Bundesebene ergangene deutsche „VerpackV“1 setzt die Richtlinie 94/62 über Verpackungen und Verpackungsabfälle um2. Für bestimmte Einwegverpackungen von Getränken führt diese Verordnung ein Pfandsystem inklusive Mehrwertsteuer ein, das auf allen Ebenen der Vertriebskette bis zum Verkauf an den Endverbraucher erhoben wird und nach Rückgabe der Verpackung zurückerstattet wird. Die Nichterhebung dieses Pfands stellt eine Ordnungswidrigkeit dar, die mit einer Geldbuße in Höhe von maximal 100.000 Euro bewehrt ist.

Nach der im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehenen Kompetenzverteilung fällt die Durchführung dieser Regelung in die Zuständigkeit der Landesbehörden, die sie im Wege von Verwaltungsakten oder Bußgeldern durchsetzen. In diesem Zusammenhang vertraten die Behörden von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern (Deutschland) die Auffassung, dass die Verpflichtung zur Erhebung des Pfands auf Geschäfte im Grenzgebiet nicht anwendbar sei, wenn die Getränke ausschließlich an u. a. in Dänemark ansässige Kunden verkauft würden und wenn diese sich schriftlich (durch Unterzeichnung einer Ausfuhrerklärung) verpflichteten, diese Getränke außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets zu konsumieren und deren Verpackungen zu entsorgen.

Dansk Erhverv, ein Berufsverband, der die Interessen dänischer Unternehmen vertritt, war der Ansicht, dass diese Befreiung von der Pfanderhebung auf Einweggetränkeverpackungen einer rechtswidrigen und mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe für eine Gruppe von Einzelhandelsunternehmen im Norden Deutschlands gleichkomme, und hatte daher eine Beschwerde wegen einer staatlichen Beihilfe bei der Kommission eingereicht. Nach der Vorphase der Prüfung erließ die Kommission einen Beschluss, mit dem sie feststellte, dass die streitigen Maßnahmen, d. h. die Nichterhebung des Pfands, die Nichterhebung der auf das Pfand entfallenden Mehrwertsteuer und der Umstand, dass gegen die Unternehmen, die das Pfand nicht erhoben hatten, keine Geldbuße verhängt worden war, keine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 3 AEUV darstellten3.

Am 23. Januar 2019 erhob Dansk Erhverv Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluss. Im Rahmen der Prüfung dieser Klage trifft das Gericht der Europäischen Union wichtige Klarstellungen zu einerseits der Verschränkung der Bestimmungen über staatliche Beihilfen mit anderen Bestimmungen des Unionsrechts und des nationalen Rechts und andererseits den Konsequenzen, die bei Geldbußen aus dem Bestehen von Auslegungsschwierigkeiten in Bezug auf eine anwendbare Vorschrift für die Bestimmung zu ziehen sind, ob staatliche Mittel vorliegen.

Würdigung des Gerichts

Erstens stellt das Gericht klar, in welchem Umfang der Verstoß gegen Bestimmungen, die nicht das Recht der staatlichen Beihilfen betreffen, mit Erfolg geltend gemacht werden kann, um die Rechtswidrigkeit eines in diesem Bereich von der Kommission erlassenen Beschlusses darzutun.

Insoweit ist nach Ansicht des Gerichts eine Unterscheidung zu treffen, je nachdem, ob die Kommission darüber befindet, ob die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist, oder darüber, ob eine Beihilfe vorliegt. Im ersten Fall kann, wenn eine Beihilfe, die durch einige ihrer Modalitäten gegen andere Bestimmungen des AEU-Vertrags verstößt, nicht für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden kann, der Verstoß durch eine nationale Maßnahme, die als staatliche Beihilfe eingestuft worden ist, gegen andere Bestimmungen des AEU-Vertrags als die über staatliche Beihilfen erfolgreich geltend gemacht werden, um die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses, mit dem die Kommission eine solche Beihilfe für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt, anzufechten.

Demgegenüber gilt dies nach Ansicht des Gerichts nicht in gleicher Weise für Beschlüsse, mit denen über das Vorliegen einer staatlichen Beihilfe entschieden wird. Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass nach Art. 11 AEUV zwar die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen einbezogen werden müssen.

Diese Einbeziehung soll jedoch auf der Ebene der Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe und nicht der Ebene der Prüfung ihres Vorliegens erfolgen. Da die Berücksichtigung eines Grundes des Allgemeininteresses im Stadium der Einstufung als staatliche Beihilfe fehlgeht, entscheidet das Gericht, dass der Umstand, dass eine nationale Maßnahme gegen andere Bestimmungen des Unionsrechts als die über staatliche Beihilfen verstößt, als solcher nicht erfolgreich geltend gemacht werden kann, um darzutun, dass diese Maßnahme eine staatliche Beihilfe sei. Denn es liefe dem Wortlaut von Art. 107 Abs. 1 AEUV zuwider, anzunehmen, dass eine nationale Maßnahme, da sie gegen andere Bestimmungen der Verträge verstößt, eine Beihilfe sei, obwohl sie nicht die ausdrücklich in dieser Bestimmung zur Identifizierung einer Beihilfe aufgestellten Voraussetzungen erfüllt.

Dies gilt nach Ansicht des Gerichts erst recht in Bezug auf die Vorschriften des Rechts eines Mitgliedstaats. Aus den Erfordernissen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes ergibt sich, dass der Wortlaut einer unionsrechtlichen Bestimmung, die keinen ausdrücklichen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten enthält, um ihren Sinn und ihre Tragweite zu bestimmen, dadurch aufzufinden ist, dass der Zusammenhang der Bestimmung und das Ziel, das von der fraglichen Regelung verfolgt wird, berücksichtigt werden. Das Gericht stellt fest, dass in Art. 107 Abs. 1 AEUV kein ausdrücklicher Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten enthalten ist. Zudem ist es nicht Sache der Kommission, sondern es obliegt den zuständigen nationalen Gerichten, die Rechtmäßigkeit nationaler Maßnahmen nach Maßgabe des nationalen Rechts zu kontrollieren. Wenn zugelassen würde, dass der Verstoß gegen die Bestimmungen des Rechts eines Mitgliedstaats die Kommission veranlassen müsste, nationale Maßnahmen als staatliche Beihilfen einzustufen, könnte dies insoweit jedoch dazu führen, dass sie unter Missachtung der Zuständigkeit der nationalen Gerichte über die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht befinden würde.

Daher weist das Gericht das Vorbringen von Dansk Erhverv zurück, dass die Kommission für die Prüfung, ob die in der Befreiung von der Pfanderhebung bestehende Maßnahme eine staatliche Beihilfe sei, die Verpflichtungen hätte berücksichtigen müssen, die Deutschland aufgrund der Richtlinie 94/62, des Verursacherprinzips und des deutschen Rechts habe.

Im Rahmen der Prüfung der Rüge, dass die Kommission, um zu beurteilen, ob der Umstand, dass keine Geldbuße verhängt worden sei, einen aus staatlichen Mitteln finanzierten Vorteil begründe, zu Unrecht ein völlig neues Kriterium angewandt habe, das auf Schwierigkeiten der Auslegung der fraglichen Regelung gestützt sei, stellt das Gericht zweitens fest, dass im vorliegenden Fall der Umstand, dass keine Geldbuße verhängt wurde, untrennbar mit der Nichterhebung des Pfands und infolgedessen mit der Auslegung der geltenden Regelung verbunden ist, was die zuständigen deutschen Landesbehörden eingeräumt haben. Eine derartige Konstellation entspricht keinem der Fälle, die in der Rechtsprechung auf dem Gebiet der Geldbußen bisher geprüft worden sind.

Unter diesen Umständen ist das Gericht der Ansicht, dass sich die Kommission zu Recht auf dieses neue rechtliche Kriterium der Verbindung zwischen der Auslegung der einschlägigen Regelung und der Ausübung der Durchsetzungsbefugnis der zur Durchsetzung berufenen Behörden gestützt hat, um zu prüfen, ob der Umstand, dass keine Geldbuße verhängt wurde, als ein aus staatlichen Mitteln finanzierter Vorteil angesehen werden konnte. Die Kommission hat ebenfalls zu Recht angenommen, dass die Schwierigkeiten der Auslegung einer Regelung es grundsätzlich ausschließen könnten, die Nichtverhängung einer Geldbuße als eine – als staatliche Beihilfe anzusehende – Befreiung von einer Geldbuße zu betrachten ist. Der Sachverhalt, in dem Schwierigkeiten der Auslegung der Norm bestehen, deren Nichtbeachtung durch die Verhängung einer Geldbuße geahndet werden kann, unterscheidet sich nämlich unter dem Gesichtspunkt des fraglichen Vorteils eindeutig von dem Sachverhalt, in dem die zuständige Behörde beschließt, ein Unternehmen von der Zahlung einer Geldbuße zu befreien, die es nach der Regelung zu tragen hätte. Im ersten Fall existiert – im Unterschied zum zweiten Fall – keine vorherige Belastung. Denn angesichts der unklaren Tragweite der Norm ist das Vorliegen eines vorschriftswidrigen Verhaltens nicht offensichtlich, und die Sanktion eines solchen Verhaltens durch eine Geldbuße erscheint daher in einer derartigen ungewissen Lage nicht erforderlich oder unvermeidlich.

Das Gericht stellt jedoch klar, dass das Kriterium, das auf das Bestehen von Schwierigkeiten bei der Auslegung der anwendbaren Regelung gestützt wird, nur unter dem Vorbehalt Anwendung finden kann, dass diese Schwierigkeiten vorübergehend sind und dass sie innerhalb eines Prozesses einer schrittweisen Klärung der Vorschriften stellen. Die Kommission hat sich jedoch nicht auf den vorübergehenden Charakter sowie darauf bezogen, dass der Klärung der Vorschriften und der Auslegungsschwierigkeiten eine schrittweise Natur eignet, obwohl diese beiden Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um zu der Feststellung zu gelangen, dass keine staatlichen Mittel eingesetzt wurden. Was den vorübergehenden Charakter der eventuellen Schwierigkeiten der Auslegung der Regelung angeht, stellt das Gericht insoweit fest, dass die Kommission keinen besonderen Umstand aufgeführt hat, mit dem sich das Andauern dieser Ungewissheit seit 2005 oder sogar seit 2003 begründen lässt. Was zudem den Umstand angeht, dass der Klärung der Vorschriften und der Auslegungsschwierigkeiten der Regelung ein schrittweiser Charakter inhärent ist, wird festgestellt, dass nichts in den Akten den Schluss zulässt, dass diese Schwierigkeiten in Kürze beseitigt gewesen wären.

Folglich entscheidet das Gericht, dass die Kommission einen Rechtsfehler begangen hat, indem sie zu dem Schluss gelangte, dass die Voraussetzung der staatlichen Mittel nicht erfüllt sei, ohne zu prüfen, ob die Auslegungsschwierigkeiten, auf die sie sich stützte, vorübergehend und der schrittweisen Klärung der Vorschriften inhärent waren. Diese Feststellung stellt ein Indiz dar, das die Annahme erlaubt, dass die Kommission im Rahmen dieser Vorphase nicht in der Lage war, alle ernsthaften Schwierigkeiten auszuräumen, auf die sie bei der Bestimmung, ob die Nichterhebung des Pfands und die Nichtverhängung einer Geldbuße eine staatliche Beihilfe darstellte, gestoßen war. Da weitere Indizien für ernsthafte Schwierigkeiten, die die Kommission im Rahmen der Vorphase der Prüfung nicht ausräumen konnte, feststellbar waren, erklärt das Gericht den angefochtenen Beschluss in Gänze für nichtig.

Fußnoten

1 Verordnung über die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen (Verpackungsverordnung) vom 21. August 1998 (BGBl. 1998 I 2379).

2 Richtlinie 94/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 1994 über Verpackungen und Verpackungsabfälle (ABl. 1994, L 365, S. 10).

3 Beschluss C(2018) 6513 final der Kommission vom 4. Oktober 2018 betreffend die staatliche Beihilfe SA.44865 (2016/FC) – Deutschland – Mutmaßliche staatliche Beihilfe an grenznahe norddeutsche Getränkehändler.

Quelle: EuGH