BVerwG, Pressemitteilung vom 05.11.2020 zum Urteil 3 C 12.19 vom 05.11.2020
Besteht für Nachkommen eines genetisch vorbelasteten Paares das hohe Risiko, an der klassischen Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 zu erkranken, kann im Einzelfall die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt sein. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 05.11.2020 entschieden.
Die Bayerische Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik lehnte die von der Klägerin beantragte Zustimmung zur Durchführung einer PID mit Bescheid vom 14. März 2016 ab. Zur Begründung führte sie aus, eine PID dürfe nach dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) nur vorgenommen werden, wenn das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit bestehe. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben. Bei dem Partner der Klägerin liege eine genetische Disposition für die Muskelerkrankung Myotone Dystrophie Typ 1 vor. Charakteristische Symptome seien Muskelsteifheit und eine langsam fortschreitende Muskelschwäche, insbesondere der Gesichtsmuskeln, der Hals- und Nackenmuskulatur sowie der Muskulatur von Unterarmen und -schenkeln. Bei einer ganz beachtlichen Zahl von Patienten zeige sich die Erkrankung aber erst im höheren Lebensalter. Für eine schwere kindliche Form des Krankheitsbildes bestehe lediglich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, da sie in der Regel nur über die Mutter vererbt werde. Die auf Erteilung der Zustimmung gerichtete Klage ist vor dem Verwaltungsgericht München und dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ohne Erfolg geblieben. Der Verwaltungsgerichtshof hat angenommen, dass eine PID nur bei einer Erbkrankheit zulässig sei, die mindestens den Schweregrad der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne (DMD) aufweise. Die DMD sei eine schwere und lebensbedrohende genetische Erkrankung, die progredient verlaufe und zu einem Muskelschwund führe, der in den meisten Fällen im jungen Erwachsenenalter zum Tod führe. Die bei dem Partner der Klägerin vorliegende klassische Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 erreiche nicht den Schweregrad der DMD. Die Betroffenen seien nicht schon in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter auf intensive Pflege im Alltag angewiesen und erreichten das fortgeschrittene Erwachsenenalter.
Das Bundesverwaltungsgericht hat der Revision der Klägerin stattgegeben und den beklagten Freistaat Bayern verpflichtet, ihren Antrag auf Durchführung einer PID zustimmend zu bewerten. Die Klägerin hat gemäß § 3a Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 ESchG einen Anspruch auf Erteilung der Zustimmung der Ethikkommission, weil für ihre Nachkommen das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht. Hinsichtlich des Vorliegens dieser Voraussetzungen ist der Ethikkommission kein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Ihre Entscheidung unterliegt der vollen gerichtlichen Überprüfung. Davon ist auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgegangen. Anders als der Verwaltungsgerichtshof angenommen hat, lässt sich aus der Vorschrift des § 3 ESchG über die verbotene Geschlechtswahl und der dortigen Einstufung der DMD als einer schwerwiegenden geschlechtsgebundenen Erbkrankheit aber nicht ableiten, dass der Schweregrad der DMD auch Maßstab für die Bewertung einer Krankheit als schwerwiegend i. S. d. § 3a Abs. 2 Satz 1 ESchG ist. Dagegen sprechen der unterschiedliche Wortlaut und Regelungszweck der beiden Normen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 3a ESchG sind Erbkrankheiten insbesondere schwerwiegend, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden. Über die Zulässigkeit der PID ist in jedem Einzelfall gesondert zu entscheiden. Wenn fraglich ist, ob die Erbkrankheit bereits wegen der genetischen Disposition eines Elternteils hinreichend schwer wiegt, sind auch mit dieser Disposition in Zusammenhang stehende weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie etwa der Umstand, dass die Eltern bereits ein Kind mit der schweren Erbkrankheit haben oder die Frau nach einer Pränataldiagnostik und ärztlichen Beratung einen Schwangerschaftsabbruch gemäß § 218a Abs. 2 StGB hat vornehmen lassen, oder dass das Elternteil mit der genetischen Disposition selbst hieran erkrankt ist.
Danach liegen im Fall der Klägerin die Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit vor. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachkommen der Klägerin und ihres Partners an der klassischen Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 erkranken, bei 50 Prozent. Es handelt sich um eine multisystemische Erkrankung, die nicht nur die Skelettmuskulatur, sondern auch Auge, Herz, Zentralnervensystem und den Hormonhaushalt betreffen kann. Die Symptome beginnen in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter. Die Krankheit verläuft progredient. Betroffene haben mit erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensgestaltung und einer geringeren Lebenserwartung zu rechnen. Im Fall der Klägerin kommt hinzu, dass ihr Partner selbst deutliche Symptome der Erkrankung zeigt.
Quelle: BVerwG