Sozialrecht - 3. Juli 2020

Offenes Kirchenasyl ist kein Rechtsmissbrauch

Asylbewerber erhält Leistungen analog dem Sozialhilferecht trotz Kirchenasyl
LSG Hessen, Pressemitteilung vom 22.06.2020 zum Beschluss L 4 AY 5/20 B ER vom 22.06.2020

Asylbewerber erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Halten sie sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet auf und haben die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, so haben sie einen analogen Anspruch auf die umfangreicheren Sozialhilfeleistungen. War ein Asylbewerber im offenen Kirchenasyl und war damit der Ausländerbehörde sein Aufenthaltsort bekannt, so ist nicht von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten auszugehen.

Dies entschied in einem am 22.06.2020 veröffentlichten Beschluss der 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts.

Asylbewerber erhält nach Abschiebungsanordnung offenes Kirchenasyl

Ein Mann aus Äthiopien reiste im Juni 2015 in die Bundesrepublik ein. Sein Asylantrag wurde abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet. Im Juli 2016 begab er sich ins Kirchenasyl einer Frankfurt Kirchengemeinde, welche die Ausländerbehörde über seinen Aufenthaltsort unterrichtete. Im Februar 2017 erhielt er eine Aufenthaltsgestattung. Während dieser Zeit wurden ihm Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gewährt.

Im Oktober 2019 beantragte er analoge Sozialhilfeleistungen und führte an, dass er sich bereits seit mehr als 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalte. Die Stadt Frankfurt am Main lehnte den Antrag ab. Das in Anspruch genommene Kirchenasyl sei als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet zu werten. Analoge Sozialhilfeleistungen seien daher ausgeschlossen. Hiergegen legte der Mann Widerspruch ein. Zudem beantragte er einstweiligen Rechtschutz vor dem Sozialgericht.

Bei Vollzugdefizit sei Kirchenasyl einem Ausländer nicht als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen

Die Darmstädter Richter haben die Stadt Frankfurt im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, vorläufig analoge Sozialhilfeleistungen bis zur Entscheidung über den Widerspruch zu gewähren.

Sie wiesen darauf hin, dass Kirchenasyl von den Verwaltungsbehörden ebenso wie von der Bundesregierung respektiert werde und in der Regel keine Abschiebung während des Kirchenasyls in den kirchlichen Räumen durchführen. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten liege nicht vor, weil aufgrund des Kirchenasyls die Abschiebung weder rechtlich noch tatsächlich unmöglich sei, wenn es sich – wie hier – um ein sog. offenes Kirchenasyl handele, bei dem die Ausländerbehörde zu jeder Zeit der Dauer des Kirchenasyls den Aufenthaltsort des Ausländers kenne. Dieses offene Kirchenasyl sei aufenthaltsrechtlich nicht einem Untertauchen des Ausweisungspflichtigen gleichzusetzen.

Verzichte der Staat bewusst darauf, die Ausreisepflicht durchzusetzen, könne das Vollzugsdefizit nicht dem Ausländer angelastet werden. Denn es wäre widersprüchlich, den Aufenthalt vorübergehend zu tolerieren und dem Ausländer gleichzeitig den Aufenthalt als Rechtsmissbrauch vorzuwerfen.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Hinweise zur Rechtslage

§ 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)

(1) Abweichend von den §§ 3 und 4 sowie 6 bis 7 sind das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch und Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die sich seit 18 Monaten ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. (…)

§ 3 AsylbLG

(1) Leistungsberechtigte nach § 1 erhalten Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts (notwendiger Bedarf). Zusätzlich werden ihnen Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens gewährt (notwendiger persönlicher Bedarf).

§ 8 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII)

Die Sozialhilfe umfasst:

1. Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 27 bis 40),

2. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (§§ 41 bis 46b),

3. Hilfen zur Gesundheit (§§ 47 bis 52),

4. Hilfe zur Pflege (§§ 61 bis 66a),

5. Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten (§§ 67 bis 69),

6. Hilfe in anderen Lebenslagen (§§ 70 bis 74)

sowie die jeweils gebotene Beratung und Unterstützung.