LSG Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 25.11.2021 zum Urteil L 6 VG 815/20 vom 18.11.2021
Eine Opferentschädigung ist unbillig, wenn das Opfer unter Nichtbeachtung des staatlichen Gewaltmonopols Selbstjustiz übt.
Der 1974 im Kosovo geborene K reiste 1993 in das Bundesgebiet ein. Er ist Vater von 4 minderjährigen Kindern, verheiratet und bei einem Betrieb angestellt, der Werkzeuge und technische Teile herstellt. Im Dezember 2010 wurde er wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe und im Mai 2015 zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Laut Strafurteil vom Mai 2015 drückte K am 30.01.2014 seine Nachbarin im Treppenhaus mit den Worten „Jetzt bist Du dran!“ gegen die Wand und fügte ihr mit einem Klappmesser zwei Schnittwunden im Gesicht von 4 bzw. 8 cm zu. K habe sich hierdurch für Geschehnisse am Vortag rächen und die Geschädigte einschüchtern wollen. Der genaue Ablauf einer tätlichen Auseinandersetzung vom Vortag, in welcher K und seine Nachbarin mit weiteren Personen in eine Schlägerei verwickelt waren, habe nicht aufgeklärt werden können.
Im Juni 2017 beantragte K Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG), weil seine Nachbarin und weitere Personen am 29.01.2014 versucht hätten, ihn umzubringen. Deshalb leide er an Schnittwunden am Schädel, am Hals und am Ohr, einem Nasenbeinbruch und an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Das Land Baden-Württemberg lehnte den Antrag ab, weil nicht erwiesen sei, dass K einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff zum Opfer gefallen sei. Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Mit seiner Berufung hat K geltend gemacht, am 29.01.2014 von seiner Nachbarin und deren Familie sowie von weiteren Personen beleidigt und mit einem Messer tödlich bedroht worden zu sein. Die gefährliche Körperverletzung vom 30.01.2014 habe er nicht begangen; vielmehr habe sich die Nachbarin ihre Schnittwunden selbst zugefügt.
Der 6. Senat des Landessozialgerichts hat bestätigt, dass dem K keine Entschädigung nach dem OEG zusteht: Es sei aufgrund der unterschiedlichen Zeugenaussagen und der widersprüchlichen Angaben des K zum Geschehensablauf nicht nachgewiesen, dass dieser am 29.01.2014 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Insbesondere habe die zeitnah hinzugezogene Polizei kein – laut K – gegen ihn verwendetes Messer sicherstellen können. Im Übrigen sei die Gewährung von Leistungen nach dem OEG hier auch unbillig. Der Staat habe ein Monopol für die Verbrechensbekämpfung und sei deswegen für den Schutz der Bürger vor Schädigungen durch kriminelle Handlungen, insbesondere durch Gewalttaten, im Bereich seines Hoheitsgebietes verantwortlich. Sinn und Zweck des OEG sei es, Opfer für solche Gewalttaten und deren Hinterbliebenen zu entschädigen, die vielfach keinen ausreichenden Schadensersatz vom Täter erhalten könnten und infolge der Gewalteinwirkung in wirtschaftliche Not gerieten. Hier habe K aber, selbst wenn gegenüber ihm am 29.01.2014 ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff verübt worden wäre, durch seine Selbstjustiz am Folgetag das Monopol des Staates für die Verbrechensbekämpfung und für den Schutz seiner Bürger in hohem Maße missachtet. Es sei treuwidrig, unter Berufung auf das Versagen des staatlichen Gewaltmonopols eine Entschädigung nach dem OEG zu verlangen, dieses Gewaltmonopol aber zugleich aufgrund der Selbstjustiz vom 30.01.2014 nicht zu beachten.
Hinweis zur Rechtslage
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhält, wer im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung (…). Gem. § 2 Abs. 1 Satz 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Nach § 3a Abs. 2 OEG erhalten Geschädigte die auf Grund der Schädigungsfolgen notwendigen Maßnahmen der Heilbehandlung und der medizinischen Rehabilitation einschließlich psychotherapeutischer Angebote. Darüber hinaus erhalten Geschädigte ab einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 10 bis zu einem GdS von 20 eine Einmalzahlung von 800 Euro, bei einem GdS von 30 und 40 eine Einmalzahlung von 1.600 Euro, bei einem GdS von 50 und 60 eine Einmalzahlung von 5.800 Euro, bei einem GdS von 70 bis 90 eine Einmalzahlung von 10.200 Euro und bei einem GdS von 100 eine Einmalzahlung von 16.500 Euro.
Quelle: LSG Baden-Württemberg