EuGH, Pressemitteilung vom 04.10.2019 zum Urteil C-260/18 vom 04.10.2019
In Darlehensverträgen, die in Polen geschlossen wurden und an eine Fremdwährung gekoppelt sind, dürfen die missbräuchlichen Klauseln über die Wechselkursdifferenz nicht durch allgemeine Bestimmungen des polnischen Zivilrechts ersetzt werden.
Kann sich nach Wegfall der missbräuchlichen Klauseln der Hauptgegenstand dieser Verträge dergestalt ändern, dass sie nicht mehr an die Fremdwährung gekoppelt wären, gleichzeitig aber an einen auf dem Zinssatz dieser Währung basierenden Zinssatz gebunden blieben, steht das Unionsrecht der Feststellung der Unwirksamkeit dieser Verträge nicht entgegen.
Im Jahr 2008 schlossen Herr Kamil Dziubak und Frau Justyna Dziubak (im Folgenden: Kreditnehmer) mit der Raiffeisenbank einen Hypothekendarlehensvertrag, der auf polnische Zloty (PLN) lautete, aber an den Schweizer Franken (CHF) gebunden war. Während also die Kreditmittel in PLN ausgezahlt wurden, waren der Sollsaldo und die monatlichen Rückzahlungsraten in CHF angegeben, wobei Letztere jedoch vom Bankkonto der Kreditnehmer in PLN abgebucht werden sollten. Bei der Auszahlung des Darlehens wurde der in CHF angegebene Sollsaldo auf der Grundlage des bei Raiffeisen am Tag der Auszahlung geltenden Ankaufskurses PLN-CHF ermittelt, während die monatlichen Darlehensraten je nach dem bei dieser Bank zum jeweiligen Fälligkeitszeitpunkt geltenden PLN-CHF-Verkaufskurs berechnet wurden. Da die Kreditnehmer einen an CHF gekoppelten Darlehensvertrag geschlossen hatten, kamen sie in den Genuss eines auf dem Zinssatz dieser Währung basierenden Zinssatzes, der niedriger war als der für PLN geltende Zinssatz, waren aber dem Wechselrisiko ausgesetzt, das sich aus der Fluktuation des Wechselkurses PLN-CHF ergab.
Die Kreditnehmer erhoben beim S?d Okr?gowy w Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) Klage, um die Nichtigkeit des in Rede stehenden Darlehensvertrags feststellen zu lassen, weil die Vertragsklauseln über die Anwendung einer Wechselkursdifferenz, die darin bestehe, dass für die Auszahlung der Mittel auf den Ankaufskurs und für die Rückzahlungen auf den Verkaufskurs zurückgegriffen werde, rechtswidrige missbräuchliche Klauseln darstellten, die für sie nach der Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen1 unverbindlich seien und deren Streichung zum Wegfall des Vertrags führe.
Nach Ansicht der Kreditnehmer ist es nämlich nach Wegfall der streitigen Klauseln unmöglich, einen korrekten Wechselkurs zu bestimmen, sodass der Vertrag nicht bestehen bleiben könne. Darüber hinaus tragen sie vor, dass das Darlehen, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der Darlehensvertrag ohne diese Klauseln als auf PLN lautender Darlehensvertrag, der nicht mehr an CHF gekoppelt wäre, erfüllt werden könne, weiterhin den an CHF gebundenen günstigeren Zinsen unterliegen müsse.
Unter Bezugnahme auf das Urteil Kásler2, in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass das nationale Gericht unter bestimmten Voraussetzungen eine missbräuchliche Klausel durch eine Bestimmung des innerstaatlichen Rechts ersetzen darf, um das Gleichgewicht zwischen den Vertragsparteien wiederherzustellen und die Wirksamkeit des Vertrags aufrechtzuerhalten, fragt das polnische Gericht, ob die missbräuchlichen Klauseln nach ihrem Wegfall durch allgemeine Bestimmungen des polnischen Rechts ersetzt werden dürfen, die vorsehen, dass die in einem Vertrag zum Ausdruck gebrachten Wirkungen auch nach den Grundsätzen der Billigkeit oder der Verkehrssitte bestimmt werden können.
Das polnische Gericht möchte ebenfalls wissen, ob ihm die Richtlinie gestattet, den Vertrag für unwirksam zu erklären, wenn die Aufrechterhaltung des Vertrags ohne die missbräuchlichen Klauseln zur Folge hätte, seinen Hauptgegenstand dergestalt zu ändern, dass die Zinsen, obwohl das betreffende Darlehen nicht mehr an CHF gekoppelt wäre, weiterhin auf der Basis des für diese Fremdwährung geltenden Zinssatzes berechnet würden.
Mit seinem Urteil vom 04.10.2019 stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass sich die im Urteil Kásler vorgesehene Befugnis zur Ersetzung von Klauseln auf dispositive Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts oder Vorschriften, die im Falle einer entsprechenden Vereinbarung der Parteien anwendbar sind, beschränkt und insbesondere auf der Prämisse beruht, dass solche Bestimmungen keine missbräuchlichen Klauseln enthalten.
Diese Bestimmungen sollen nämlich das Gleichgewicht widerspiegeln, das der nationale Gesetzgeber zwischen allen Rechten und Pflichten der Parteien bestimmter Verträge in Fällen herstellen wollte, in denen die Parteien entweder nicht von einer vom nationalen Gesetzgeber für die betreffenden Verträge vorgesehenen Standardregel abgewichen sind oder ausdrücklich für die Anwendbarkeit einer vom nationalen Gesetzgeber zu diesem Zweck eingeführten Regel optiert haben. Die oben angeführten allgemeinen Bestimmungen des polnischen Rechts scheinen aber nicht Gegenstand einer besonderen Prüfung durch den Gesetzgeber im Hinblick auf die Herstellung dieses Gleichgewichts gewesen zu sein, sodass für diese Vorschriften nicht die Vermutung gilt, dass sie nicht missbräuchlich sind.
Daher geht der Gerichtshof davon aus, dass diese Bestimmungen nicht die Lücken eines Vertrags schließen können, die durch den Wegfall der darin enthaltenen missbräuchlichen Klauseln entstanden sind.
Da ja die Möglichkeit der Ersetzung der Klauseln den effektiven Schutz des Verbrauchers gewährleisten soll, indem seine tatsächlichen und gegenwärtigen Interessen gegen möglicherweise nachteilige Folgen, die sich aus der Feststellung der Unwirksamkeit des betreffenden Vertrags als Ganzes ergeben könnten, geschützt werden, sind diese Folgen anhand der zum Zeitpunkt des Rechtsstreits über die Streichung der betreffenden missbräuchlichen Klauseln bestehenden oder vorhersehbaren Umstände und nicht anhand der zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehenden Umstände zu beurteilen.
Der Gerichtshof weist sodann darauf hin, dass nach der Richtlinie ein Vertrag ohne die zuvor in ihm enthaltenen missbräuchlichen Klauseln für die Parteien hinsichtlich seiner anderen Klauseln bindend bleibt, sofern er ohne die weggefallenen missbräuchlichen Klauseln bestehen kann und ein solcher Fortbestand des Vertrags im innerstaatlichen Recht rechtlich möglich ist. Insoweit merkt der Gerichtshof an, dass sich laut nationalem Gericht nach dem bloßen Wegfall der Klauseln über die Wechselkursdifferenz durch die kumulative Wirkung der Entkopplung von CHF und der fortgesetzten Anwendung eines auf dem Zinssatz von CHF basierenden Zinssatzes der Hauptgegenstand des Vertrags seiner Art nach zu ändern scheint. Da eine solche Änderung im polnischen Recht aber offenkundig rechtlich unmöglich ist, steht die Richtlinie der Feststellung der Unwirksamkeit des streitigen Vertrags durch das polnische Gericht nicht entgegen.
In diesem Punkt betont der Gerichtshof, dass die Nichtigerklärung der streitigen Klauseln nicht nur zur Beseitigung des Indexierungsmechanismus und der Wechselkursdifferenz, sondern indirekt auch zum Wegfall des Wechselkursrisikos führen würde, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kopplung des Darlehens an eine Währung steht. Der Gerichtshof erinnert daran, dass die Klauseln über das Wechselkursrisiko aber den Hauptgegenstand eines an eine Fremdwährung gebundenen Darlehensvertrags definieren, sodass jedenfalls ungewiss ist, ob die Aufrechterhaltung des betreffenden Darlehensvertrags objektiv möglich ist.
Schließlich weist der Gerichtshof darauf hin, dass das durch die Richtlinie geschaffene System zum Schutz vor missbräuchlichen Klauseln, falls der Verbraucher es vorzieht, sich nicht darauf zu berufen, nicht zur Anwendung kommt. Insoweit stellt der Gerichtshof klar, dass der Verbraucher sich auch weigern können muss, nach eben diesem System vor den nachteiligen Folgen, die sich aus der Feststellung der Unwirksamkeit des Vertrags als Ganzes ergeben, geschützt zu werden, wenn er diesen Schutz nicht in Anspruch nehmen möchte.
Fußnoten
1 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).
2 Urteil des Gerichtshofs vom 30. April 2014, Kásler und Káslerné Rábai (C-26/13), vgl. auch Pressemitteilung 66/14.