BRAK, Mitteilung vom 02.12.2024 zum Urteil 1 BvL 1/24 des BVerfG vom 26.11.2024
Das BVerfG hat entschieden, dass es ausnahmsweise möglich sein muss, ärztliche Zwangsbehandlungen ambulant statt im Krankenhaus durchzuführen.
Die gesetzlichen Regelungen zum Krankenhausvorbehalt bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen sind teilweise verfassungswidrig, entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit 5:3 Stimmen. Die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen in einem Krankenhaus durchzuführen, verstoße gegen das Grundrecht auf Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG. Der Gesetzgeber muss nun bis Ende 2026 eine neue gesetzliche Regelung finden. Bis dahin gilt das bisherige Recht fort (Urteil vom 26.11.2024, Az. 1 BvL 1/24).
Geklagt hatte der gesetzliche Betreuer einer an paranoider Schizophrenie erkrankten Patientin, die seit langer Zeit in einem Wohnverbund lebt. Bereits mehrfach musste sie in der Vergangenheit gegen ihren Willen mit Neuroleptika zwangsbehandelt werden. Dies ist von Gesetzes wegen möglich, wenn die ärztliche Behandlung zwar dem natürlichen Willen der Betreuten widerspricht, diese aber keinen freien Willen bilden kann. Dann kann der Betreuer an ihrer Stelle mit Genehmigung des Betreuungsgerichts einwilligen. Aufgrund einer Neuregelung des Gesetzgebers (§ 1906a Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 a. F.; § 1832 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 BGB) infolge eines früheren BVerfG-Urteils ist dies derzeit nur im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes möglich.
Für den Transport in ein Krankenhaus musste die Betroffene jedoch schon in der Vergangenheit häufig fixiert werden, wovon sie traumatisiert wurde. Ihr Betreuer wollte ihr eine Retraumatisierung bei einer erneuten notwendigen Zwangsbehandlung mit Medikamenten ersparen und beantragte eine Behandlung in ihrer vertrauten Umgebung. Dies lehnte das Betreuungsgericht jedoch aufgrund der eindeutigen Gesetzeslage ab. Der Fall ging durch die Instanzen bis zum BGH, der schließlich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der entsprechenden Vorgabe hatte. Deshalb legte er den Fall im Rahmen der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vor.
BVerfG: Krankenhausvorbehalt unverhältnismäßig im engeren Sinne
Dieses folgte nun der Auffassung des Zivilgerichts und erlegte dem Gesetzgeber auf, mit einer etwas flexibleren Regelung Raum für spezielle Fälle zu schaffen. Eine ausnahmslose Pflicht zur Krankenhausbehandlung sei unverhältnismäßig im engeren Sinne. Dies ergebe sich aus einer Gesamtabwägung der widerstreitenden Schutzpflichten des Staates im Hinblick auf die körperliche Integrität und Selbstbestimmung der Betroffenen.
Mit dem Krankenhausvorbehalt verfolge der Gesetzgeber zwar einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck von hohem Gewicht. Dieser liege darin, durch materielle und verfahrensrechtliche Sicherungen größtmöglichen Schutz für Menschen zu gewährleisten, die zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit einer Zwangsmaßnahme unterworfen werden. Diese sollten ausschließlich als letztes Mittel (ultima ratio) ergriffen werden. Betroffene sollten zudem in ihrem privaten Wohnumfeld vor Zwangsmaßnahmen geschützt werden, außerdem sollten Fehlanreize für nicht erforderliche ärztliche Zwangsmaßnahmen vermieden werden. Auch gebe es in Krankenhäusern multiprofessionelle Teams, welche die Voraussetzungen der Zwangsmaßnahme prüfen und eine angemessene fachliche Versorgung der Betroffenen sicherstellen könnten.
Auf der anderen Seite werde es den Betroffenen verwehrt, die Zwangsbehandlung zumindest durch einen Behandelnden ihres Vertrauens durchführen zu lassen. Auch die konkreten ärztlichen Maßnahmen könnten das Eingriffsgewicht erhöhen: Etwa der Umgebungswechsel gerade bei an Demenz erkrankten Patientinnen und Patienten; ein gesteigertes Ansteckungsrisiko mit spezifischen Infektionskrankheiten bei einem Aufenthalt in einem Krankenhaus oder – wie hier – die Anwendung unmittelbaren Zwangs zum Zweck der Verbringung in das Krankenhaus.
Das muss der Gesetzgeber für die Neuregelung beachten
Für die Neuregelung gab das BVerfG dem Gesetzgeber folgende Vorgaben mit auf den Weg:
- Ausnahmen von der Regel, dass Zwangsbehandlungen im Krankenhaus durchgeführt werden müssten, dürften nur für Fälle geschaffen werden, in denen Betreuten bei einem stationären Aufenthalt erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohten.
- Diese Beeinträchtigungen müssten in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können. Dies dürfte insbesondere in solchen Fällen in Betracht kommen, in denen ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber Betreuten zum wiederholten Male durchgeführt werden und in denen sich aus vorangehenden Genehmigungsverfahren gegebenenfalls besondere Erkenntnisse zu den ihnen voraussichtlich drohenden Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit ergeben.
- Der Krankenhausstandard müsse im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung auch in der ambulanten Einrichtung voraussichtlich nahezu erreicht werden.
- Es dürften bei der ambulanten Behandlung keine anderen Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.
In einem Sondervotum hatte Richter Wolff befürwortet, die aktuelle gesetzliche Regelung im Ergebnis nicht als verfassungswidrig zu beanstanden. Aufgrund der unsicheren Erkenntnisgrundlage solle eine Entscheidung über eine mögliche Neuregelung von Ausnahmen dem Gesetzgeber überlassen werden.
Quelle: Bundesrechtsanwaltskammer