VG Mainz, Pressemitteilung vom 07.09.2022 zum Urteil 4 K 569/21 vom 12.08.2022
Zur Verhinderung einer dauerhaften Inanspruchnahme der Sozialhilfesysteme kann das Recht auf Einreise und Aufenthalt eines EU-Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland auch unter Berücksichtigung familiärer Bindungen verloren gehen. Dies entschied das Verwaltungsgericht Mainz.
Der über 70 Jahre alte Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er reiste 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seither lebt er bei seiner Tochter, die ihn nach seinem Vortrag wegen verschiedener Erkrankungen pflegt. Der Kläger bezieht seit Mitte 2020 Leistungen zur Grundsicherung im Alter. Der beklagte Landkreis stellte mit einem Bescheid den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern – Freizügigkeitsgesetz – fest; zugleich wurde ihm eine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt und für den Fall der Fristversäumung die Abschiebung angedroht. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob der Kläger Klage. Er machte geltend, die ausländerrechtliche Verfügung lasse seine schwere Erkrankung und die deshalb notwendige Pflege durch die in Deutschland lebende Tochter außen vor. Mangels weiterer Bezugspersonen in Polen bestehe nur noch eine soziale Verwurzelung zu seiner Tochter. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab.
Der Kläger sei als polnischer Staatsangehöriger zwar Unionsbürger und damit der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes gegeben. Ein nach diesem Gesetz für Unionsbürger eröffnetes Freizügigkeitsrecht könne der Kläger für sich jedoch nicht in Anspruch nehmen, weshalb der Beklagte berechtigt gewesen sei, den Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet festzustellen. Der Kläger halte sich nicht als Arbeitnehmer im Bundesgebiet auf. Als Nichterwerbstätiger sei er weder ausreichend krankenversichert noch stünden ihm aufgrund des Bezugs von Grundsicherung ausreichende Existenzmittel zur Verfügung. Mit Blick auf sein Lebensalter und die geltend gemachte Pflegebedürftigkeit könne auch nicht von einer nur vorübergehenden Inanspruchnahme von Sozialleistungen ausgegangen werden. Ein Freizügigkeitsrecht des Klägers bestehe aber auch nicht als Familienangehöriger seiner in Deutschland lebenden Tochter. Nach dem Klagevorbringen sei nicht ersichtlich, dass diese den Kläger regelmäßig (zu einem beachtlichen Teil) bei den Kosten zum Lebensunterhalt unterstütze. Denn der Kläger erhalte Sozialleistungen auch für Unterkunft und Heizung, also auch für ihm von der Tochter zur Verfügung gestellten Wohnraum. Nicht näher dargelegt sei zudem, welche tatsächlichen Pflegeleistungen die Tochter ihm gegenüber erbringe, zumal eine weitere Tochter in Deutschland wohnhaft sei. Der Kläger verfüge ferner nicht über ein Daueraufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz, weil er sich noch nicht fünf Jahre ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Der Beklagte habe schließlich ermessensfehlerfrei den Verlust des Freizügigkeitsrechts des Klägers festgestellt. Unter Berücksichtigung unionsrechtlicher Regelungen führe der Bezug von Sozialleistungen durch einen EU-Ausländer nicht automatisch zu einem Verlust seines Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat. Erforderlich sei vielmehr eine „unangemessene“ Inanspruchnahme von Sozialleistungen, um eine Überlastung des nationalen Sozialhilfesystems in seiner Gesamtheit zu verhindern. Diesem hier gegebenen Belang habe der Beklagte den Vorzug vor den familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet geben dürfen, ohne dass insoweit ein unverhältnismäßiges Vorgehen anzunehmen wäre. Die behauptete Entwurzelung des Klägers in seinem Heimatland, in dem er ebenfalls medizinisch und pflegerisch betreut werden könne, werde angesichts der dort verbrachten Jahrzehnte und der nur kurzen Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik ohne Kenntnis der deutschen Sprache als fernliegend angesehen. Demgegenüber bestehe auch in Zukunft weiterhin ein Sozialhilfebedarf für die gesamten Lebenshaltungskosten des Klägers, der angesichts seiner zunehmenden Pflegebedürftigkeit erwartungsgemäß zu einer anwachsenden Belastung des hiesigen Sozialsystems führen werde.
Der Kläger hat einen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts bei dem Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz gestellt.
Quelle: VG Mainz