Sozialrecht - 22. Dezember 2021

Hausgebärdensprachkurs für Vierjährige mit Sprachentwicklungsstörung ist als Leistung zur sozialen Teilhabe zu gewähren

LSG Hessen, Pressemitteilung vom 22.12.2021 zum Beschluss L 4 SO 218/21 B ER vom 09.12.2021

Sprechen lernen – auch mit den Händen

Zu den Leistungen der Eingliederungshilfe gehört zur Förderung der Verständigung auch ein Hausgebärdensprachkurs, bei welchem die Gebärdensprache im häuslichen Umfeld unterrichtet wird. Anspruchsberechtigt können auch Menschen sein, deren Sprachfähigkeit hinsichtlich der Wortfindung oder dem Artikulationsvermögen beeinträchtigt ist.

Im Fall eines 4-jährigen Kindes mit einer Sprachentwicklungsstörung bejahte der 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts einen entsprechenden Anspruch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Das Erlernen der Gebärdensprache als weiteres Mittel der Kommunikation erleichtere dem Kind die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und mildere seine psychische Belastung.

Eltern beantragen für ihre vierjährige Tochter einen Hausgebärdensprachkurs

Ein 4-jähriges Mädchen kann aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung – ohne sprachrelevante Hörstörung – nicht intuitiv die Zunge nach links, rechts oder oben bewegen.

Es kann daher nur wenige Wörter verständlich aussprechen. Die Eltern des Mädchens beantragten für ihre Tochter einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von 6 Stunden wöchentlich. Das Sprechvermögen befinde sich auf dem Stand eines 2,5-jährigen Kindes, während das Wortverständnis einem 5-jährigen Kind entspreche. Dadurch fühle sie sich nicht verstanden und reagiere häufig sehr aggressiv gegenüber vertrauten Personen.

Zudem werde sie im kommenden Jahr eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache und Gehör, in welcher teilweise in Gebärden unterrichtet werde, besuchen.

Schließlich habe das Jugendamt den Eltern einen Gebärdensprachkurs unter der Voraussetzung bewilligt, dass dem Kind ein entsprechender Kurs gewährt werde.

Die Stadt Kassel lehnte den Antrag ab. Ein Förderkonzept aus einer intensiven logopädischen Behandlung mit Unterstützter Kommunikation, einer Kindergartenintegrationsmaßnahme sowie einer interdisziplinären Frühförderung verspreche mehr Erfolg. Das Erlernen der Gebärdensprache sei hingegen kontraproduktiv und überfordere das Kind.

Da im Kindergarten die Lautsprache mit Unterstützter Kommunikation geübt werde, könne die Gebärdensprache zudem dort nicht genutzt werden.

Landessozialgericht verpflichtet Behörde zur vorläufigen Leistung

Im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtete das Landessozialgericht die Stadt Kassel vorläufig, einen Hausgebärdensprachkurs im Umfang von 4 Förderstunden pro Woche als Eingliederungshilfe zu gewähren. Maßnahmen der Eingliederungshilfe sollten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglichen oder erleichtern. Dabei sollten Kontakte auch zu nicht behinderten Menschen – und zwar nicht nur zu nahestehenden Personen wie Familienangehörigen – gefördert werden. Art und Maß der entsprechenden Aktivitäten seien abhängig von den individuellen Bedürfnissen. Ob ein Anspruch bestehe, richte sich deshalb nach den Gegebenheiten des Einzelfalls.

Das vierjährige Kind sei aufgrund einer Sprachentwicklungsstörung wesentlich in seiner Teilhabefähigkeit eingeschränkt. Nach den ärztlichen Stellungnahmen stoße das Mädchen mit der Mundmuskulatur an seine Grenzen. Um die psychische Belastung für das Kind abzumildern, sei es äußert wichtig, als weiteres Kommunikationsmittel die Gebärdensprache zu erlernen. Nach den Angaben der behandelnden Logopädin lernten viele Kinder durch das Kommunizieren mit Gebärden schneller Sprechen. Auch die Unterstützte Kommunikation arbeite nicht nur mit körperfernen, sondern vielmehr auch mit körpereigenen Kommunikationsformen (Gestik, Mimik, Körperhaltung und Gebärden).

Daher sei für das Gericht nicht nachzuvollziehen, weshalb das (ergänzende) Erlernen der Gebärdensprache – im Gegensatz zu Unterstützter Kommunikation – die Sprachentwicklung hemmen solle.

Unbeachtlich sei, dass im Kindergarten derzeit die Gebärdensprache nicht genutzt werde.

Im Rahmen der Eingliederungshilfe könnten auch Assistenzleistungen beansprucht werden, die – soweit geeignet und erforderlich – auch einen Gebärdendolmetscher bzw. eine Sprachassistenz umfassen könnten.

Im bereits anhängigen Klageverfahren, in welchem endgültig über den Anspruch entschieden werde, könne eine weitere Sachaufklärung durch ein Sachverständigengutachten erfolgen.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Hinweise zur Rechtslage

§ 53 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX)

(1) Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, erhalten Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. (…)

§ 82 SGB IX

Leistungen zur Förderung der Verständigung werden erbracht, um Leistungsberechtigten mit Hör- und Sprachbehinderungen die Verständigung mit der Umwelt aus besonderem Anlass zu ermöglichen oder zu erleichtern. Die Leistungen umfassen insbesondere Hilfen durch Gebärdensprachdolmetscher und andere geeignete Kommunikationshilfen. (…)

§ 99 SGB XII

(1) Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten Menschen mit Behinderungen im Sinne von § 2 Absatz 1 Satz 1 und 2, die wesentlich in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind (wesentliche Behinderung) oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe nach § 90 erfüllt werden kann.

§ 104 SGB IX

(1) Die Leistungen der Eingliederungshilfe bestimmen sich nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach der Art des Bedarfes, den persönlichen Verhältnissen, (…)

(1) Wünschen der Leistungsberechtigten, die sich auf die Gestaltung der Leistung richten, ist zu entsprechen, soweit sie angemessen sind. (…)

§ 113 SGB IX

(1) Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern (…).
Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. (…)

(2) Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind insbesondere (…)

  1. Leistungen zur Förderung der Verständigung (…)

Quelle: LSG Hessen