LSG Baden-Württemberg, Pressemitteilung vom 16.03.2023 zum Beschluss L 2 SO 204/23 ER-B vom 01.03.2023
Assistenz für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung beim Besuch einer Schule ist Aufgabe der Eingliederungshilfe nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch, für die in Baden-Württemberg die Stadt- und Landkreise als örtliche Träger der Jugend- bzw. Sozialhilfe zuständig sind. Dies gilt jedoch nicht für den „pädagogischen Kernbereich“ des Unterrichts, also die Vermittlung der nach dem jeweiligen Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg vorgegebenen Lehrstoffs. Für diesen Bereich sind die Schulen bzw. das Land selbst verantwortlich.
Vor diesem Hintergrund hat der 2. Senat des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg in einem Eilverfahren den Landkreis Reutlingen verpflichtet, einer gehörlosen 13-jährigen Schülerin vorläufig 16 Stunden Assistenz durch einen Gebärdendolmetscher wöchentlich (zu einem voraussichtlichen Stundensatz von 85 Euro) zu gewähren.
Die antragstellende Schülerin wohnt im Landkreis Reutlingen. Sie besucht ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit Förderschwerpunkt Hören. Sie kommuniziert in der Deutschen Gebärdensprache (DGS). Allerdings sind nicht alle Lehrkräfte in ihrer Schule gleichermaßen gebärdenkompetent, sodass sie oft nicht verstanden wird. Hinzu kommt, dass die Lehrkräfte ihre eigenen lautsprachlichen Äußerungen und ggfs. auch lautsprachliche Äußerungen der Mitschüler in DGS übersetzen müssen, damit die Antragstellerin sie versteht. Eine solche Doppelrolle als Gesprächsführer und Dolmetscher verzögert den Unterrichtsverlauf, sodass lautsprachliche Äußerungen für die Antragstellerin nur zusammengefasst wiedergegeben werden. Dies erschwert ihre Teilnahme am Unterricht.
Das LSG hat seine Entscheidung damit begründet, auf jeden Fall sei die Übertragung lautsprachlicher Äußerungen, insbesondere anderer Schüler, durch einen Gebärdendolmetscher eine Aufgabe der Eingliederungshilfe. Das Dolmetschen gehöre nicht zum pädagogischen Kernbereich, der Wissensvermittlung, sondern sichere die eigentliche Arbeit der Lehrkraft nur ab. Dass die Antragstellerin durch das Dolmetschen auch ihre Kenntnisse in der DGS verbessere, sei nur ein Nebeneffekt. Es könne letztlich auch nicht verlangt werden, dass andere Schüler für die Antragstellerin dolmetschten.
Ferner weist das LSG darauf hin, dass die Vermittlung der DGS an gehörlose Schüler zwar eine Leistung der Schule sei, die aber zurzeit nicht ausreichend erbracht werde. Daher sei auch für diese Aufgabe, allerdings nur nachrangig, die Eingliederungshilfe zuständig. Insoweit, so das LSG am Rande, ständen dem Landkreis wegen der Kosten des Gebärdendolmetschers möglicherweise Regressansprüche zu.
Eine endgültige Entscheidung, ob der Landkreis Reutlingen als Träger der Eingliederungshilfe die Kosten des Gebärdendolmetschers tragen muss, wird erst in einem Hauptsacheverfahren (Klageverfahren) vor dem Sozialgericht Reutlingen ergehen.
Hinweis zur Rechtslage
Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
§ 75 Leistungen zur Teilhabe an Bildung. (1) Zur Teilhabe an Bildung werden unterstützende Leistungen erbracht, die erforderlich sind, damit Menschen mit Behinderungen Bildungsangebote gleichberechtigt wahrnehmen können.
§ 112 Leistungen zur Teilhabe an Bildung. (1) Leistungen zur Teilhabe an Bildung umfassen (…) 1. Hilfen zu einer Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt.
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG)
Art. 3. (…) (3) (…). 2Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Quelle: Landessozialgericht Baden-Württemberg