EU-Recht - 9. September 2022

EuGH zur Verpflichtung, Hochschulstudienprogramme in der Amtssprache des Mitgliedstaats zu unterrichten

EuGH, Pressemitteilung vom 07.09.2022 zum Urteil C-391/20 vom 07.09.2022

Die Verpflichtung, Hochschulstudienprogramme in der Amtssprache des Mitgliedstaats zu unterrichten, kann mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sein.

Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, zu der auch der Schutz der Amtssprache des betreffenden Mitgliedstaats gehört.

Zwanzig Mitglieder des lettischen Parlaments beantragen vor dem lettischen Verfassungsgericht die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des lettischen Hochschulgesetzes. Nach diesem Gesetz sind Hochschulen, einschließlich privater Hochschulen, verpflichtet, die Studienprogramme ausschließlich in lettischer Sprache zu unterrichten.

Allerdings sieht das Gesetz vier Ausnahmen von dieser Verpflichtung vor, nämlich erstens für ausländische Studierende und die europäische oder internationale Zusammenarbeit, zweitens für ein Fünftel der Leistungspunkte, drittens für das Studium fremder Sprachen und Kulturen sowie viertens für gemeinsame Studienprogramme. Ferner findet das lettische Hochschulgesetz keine Anwendung auf zwei private Hochschuleinrichtungen, die besonderen Gesetzen unterliegen und Studienprogramme weiterhin in anderen Amtssprachen der Union anbieten können.

Das lettische Verfassungsgericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob die Verpflichtung für Hochschulen, Studienprogramme ausschließlich in lettischer Sprache zu unterrichten, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der Niederlassungsfreiheit, vereinbar ist.

Mit seinem Urteil vom 07.09.2022 weist der Gerichtshof (Große Kammer) darauf hin, dass die Zuständigkeit für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems und der beruflichen Bildung zwar weiterhin bei den Mitgliedstaaten liegt, diese jedoch bei der Ausübung dieser Zuständigkeit das Unionsrecht, insbesondere die Bestimmungen über die Niederlassungsfreiheit, beachten müssen. Daher hebt der Gerichtshof hervor, dass alle Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen, als Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit anzusehen sind. Im vorliegenden Fall dürfen sich die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zwar in Lettland niederlassen und dort Hochschulstudienprogramme unterrichten, doch ist diese Möglichkeit grundsätzlich durch die Verpflichtung bedingt, diese Programme nur in der Amtssprache dieses Mitgliedstaats zu unterrichten. Eine solche Verpflichtung ist jedoch geeignet, für diese Staatsangehörigen die Niederlassung in Lettland weniger attraktiv zu machen, und stellt somit eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.

Gemäß dem durch seine Rechtsprechung fest etablierten Schema prüft der Gerichtshof sodann, ob es für die festgestellte Beschränkung eine Rechtfertigung gibt und ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.

Was die Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit betrifft, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Ziel der Förderung des Gebrauchs einer der Amtssprachen eines Mitgliedstaats als ein legitimes Ziel anzusehen ist, das eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen kann. Die Union achtet nämlich die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, zu der auch der Schutz der Amtssprache des betreffenden Mitgliedstaats gehört.

Was die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung betrifft, so muss die Beschränkung erstens geeignet sein, die Erreichung des mit der fraglichen Regelung legitimerweise verfolgten Ziels zu gewährleisten. Dies setzt eine kohärente und systematische Durchführung dieser Regelung voraus. Der Gerichtshof prüft insoweit, ob die Ausnahmen von der in Rede stehenden Verpflichtung, insbesondere für die beiden Hochschuleinrichtungen, deren Betrieb durch besondere Gesetze geregelt ist, geeignet sind, die Verwirklichung des angestrebten Ziels zu behindern. Angesichts der begrenzten Tragweite dieser Ausnahmen wird dies vom Gerichtshof verneint. Indem sie es bestimmten Hochschulen erlauben, von einer Ausnahmeregelung zu profitieren, fügen sich diese Ausnahmen in den besonderen Zusammenhang der internationalen universitären Zusammenarbeit ein und sind daher nicht geeignet, der fraglichen Regelung ihre Kohärenz zu nehmen.

Zweitens darf die Beschränkung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist. So steht es den Mitgliedstaaten frei, grundsätzlich eine Verpflichtung zum Gebrauch ihrer Amtssprache im Rahmen von Hochschulstudienprogrammen einzuführen, sofern eine solche Verpflichtung mit Ausnahmen einhergeht, die gewährleisten, dass eine andere Sprache als die Amtssprache im Rahmen der Hochschulbildung verwendet werden kann. Im vorliegenden Fall müssten solche Ausnahmen, damit nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgegangen wird, die Verwendung einer anderen Sprache als der lettischen Sprache zumindest für Studiengänge im Rahmen einer europäischen oder internationalen Zusammenarbeit und für Studiengänge, die sich auf die Kultur und auf andere Sprachen als die lettische Sprache beziehen, erlauben.

Unter diesen Umständen kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass eine nationale Regelung eines Mitgliedstaats, die Hochschulen dazu verpflichtet, die Studienprogramme ausschließlich in der Amtssprache dieses Mitgliedstaats zu unterrichten, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, sofern eine solche Regelung aus Gründen, die mit dem Schutz der nationalen Identität dieses Mitgliedstaats zusammenhängen, gerechtfertigt ist, d. h., sofern sie zum Schutz des legitimerweise verfolgten Ziels erforderlich und in Bezug auf diesen Schutz verhältnismäßig ist.

Quelle: EuGH