EU-Recht - 19. Mai 2022

EuGH zur sozialen Sicherheit von Wanderarbeitnehmern

EuGH, Pressemitteilung vom 19.05.2022 zum Urteil C-33/21 vom 19.05.2022

Das nicht von E101-Bescheinigungen erfasste fliegende Personal von Ryanair, das täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten Raum auf dem Flughafen von Bergamo arbeitet und sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet, unterliegt den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit.

Nach einer Inspektion vertrat das Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS) die Auffassung, dass die dem Flughafen Orio al Serio in Bergamo (Italien) zugewiesenen 219 Beschäftigten von Ryanair eine Beschäftigung im italienischen Hoheitsgebiet ausübten und in Anwendung des italienischen Rechts und der Verordnung Nr. 1408/711 für den Zeitraum von Juni 2006 bis Februar 2010 beim INPS zu versichern seien.

Auch das Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL) war der Auffassung, dass diese Beschäftigten nach italienischem Recht für den Zeitraum vom 25. Januar 2008 bis zum 25. Januar 2013 beim INAIL gegen die Risiken der am Boden zu erbringenden Arbeit zu versichern seien, da sie der Heimatbasis von Ryanair auf dem Flughafen Orio al Serio zugewiesen seien.

Das INPS und das INAIL verlangten daher von Ryanair die Zahlung der auf diese Zeiträume entfallenden Sozial- und Unfallversicherungsbeiträge, wogegen Ryanair vor den italienischen Gerichten vorging.

Das italienische Berufungsgericht prüfte die von der zuständigen irischen Stelle ausgestellten E101-Bescheinigungen, nach denen auf die darin bezeichneten Beschäftigten die irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anwendbar waren. Diese Bescheinigungen erfassten allerdings nicht alle 219 dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair während der gesamten betreffenden Zeiträume. Es folgerte daraus, dass hinsichtlich derjenigen Beschäftigten, für die das Vorliegen einer E101-Bescheinigung nicht nachgewiesen worden sei, die anzuwendenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit bestimmt werden müssten. Da das Gericht die italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit für nicht anwendbar hielt, legten das INPS und das INAIL Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ein.

Dieses Gericht hat dem Gerichtshof eine Frage vorgelegt, mit der geklärt werden soll, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit gemäß den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung Nr. 883/2004 auf fliegendes Personal einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Fluggesellschaft anwendbar sind, das nicht von E101-Bescheinigungen erfasst ist und täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten, als „crew room“ bezeichneten Raum arbeitet, über den die Fluggesellschaft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügt, in dem das fliegende Personal wohnt, das sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet.

Mit seinem Urteil vom 19.05.2022 entscheidet der Gerichtshof, dass die während der betreffenden Zeiträume auf die dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen, nicht von den E101-Bescheinigungen erfassten Beschäftigten von Ryanair anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unter dem Vorbehalt der Prüfung durch das vorlegende Gericht die italienischen Rechtsvorschriften sind.

Was zunächst die Zeiträume betrifft, die unter die Verordnung Nr. 1408/71 fallen, weist der Gerichtshof auf den Grundsatz hin, dass eine Person, die zum fliegenden Personal einer Fluggesellschaft, die internationale Flüge durchführt, gehört und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die diese Gesellschaft außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet2.

Die Anwendung dieser Bestimmung hängt davon ab, dass zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Zum einen muss die betreffende Fluggesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung haben, und zum anderen muss die betreffende Person von dieser Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt werden.

Zur ersten Voraussetzung stellt der Gerichtshof fest, dass die Begriffe „Zweigstelle“ und „ständige Vertretung“ so zu verstehen sind, dass mit ihnen eine Form der dauerhaft und fortgesetzt betriebenen Zweitniederlassung gemeint ist, mit der eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt werden soll und die zu diesem Zweck über organisierte materielle und personelle Mittel verfügt sowie über eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Hauptniederlassung. In Bezug auf die zweite Voraussetzung hebt der Gerichtshof hervor, dass das Arbeitsverhältnis des fliegenden Personals einer Fluggesellschaft eine enge Verknüpfung mit dem Ort aufweist, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllt.

Der Gerichtshof geht daher davon aus, dass der für die Besatzung von Ryanair vorgesehene Raum („crew room“) auf dem Flughafen Orio al Serio eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung darstellt, in der die diesem Flughafen zugewiesenen, nicht von den E101-Bescheinigungen erfassten Arbeitnehmer von Ryanair während der betreffenden Zeiträume beschäftigt waren, so dass sie nach der Verordnung Nr. 1408/71 den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlagen.

Was sodann die Zeiträume betrifft, die unter die Verordnung Nr. 883/2004 fallen, weist der Gerichtshof auf den Grundsatz hin, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt3.

Konkret ist für die Feststellung, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, im Fall einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt heranzuziehen, wobei diese Kriterien bei einem Anteil von weniger als 25 % nicht erfüllt sind.

Der Gerichtshof ist folglich der Ansicht, dass die dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen, nicht von den E101-Bescheinigungen erfassten Beschäftigten von Ryanair dann den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterliegen, wenn sie einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit in Italien ausgeübt haben, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

Abschließend weist der Gerichtshof darauf hin, dass in der Verordnung Nr. 883/2004 seit 20124 eine neue Kollisionsnorm vorgesehen ist, nach der eine Tätigkeit, die ein Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglied in Form von Leistungen im Zusammenhang mit Fluggästen ausübt, als in dem Mitgliedstaat ausgeübte Tätigkeit gilt, in dem sich die Heimatbasis befindet. Unter dieser ist der vom Luftfahrtunternehmer gegenüber dem Besatzungsmitglied benannte Ort zu verstehen, wo das Besatzungsmitglied normalerweise eine Dienstzeit oder eine Abfolge von Dienstzeiten beginnt und beendet und wo der Luftfahrtunternehmer normalerweise nicht für die Unterbringung des betreffenden Besatzungsmitglieds verantwortlich ist.

Der Gerichtshof ist daher der Auffassung, dass der für die Besatzung von Ryanair vorgesehene Raum auf dem Flughafen Orio al Serio eine Heimatbasis darstellt, so dass die ihm zugewiesenen, nicht von den E101-Bescheinigungen erfassten Beschäftigten von Ryanair nach der Verordnung Nr. 883/2004 den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterliegen.

Fußnoten

1 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2), geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. 2004, L 100, S. 1) geänderten Fassung, aufgehoben und ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1), diese geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 1) sowie durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4).
2 Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71.
3 Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004.
4 Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004.

Quelle: EuGH