EU-Recht - 30. April 2021

EuGH zur Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht

EuGH, Pressemitteilung vom 29.04.2021 zum Urteil C-383/19 vom 29.04.2021

Der Abschluss eines Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags ist obligatorisch, wenn das betreffende Fahrzeug in einem Mitgliedstaat zugelassen ist und nicht ordnungsgemäß stillgelegt worden ist.

Diese Pflicht lässt sich nicht allein deshalb ausschließen, weil ein zugelassenes Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt wegen seines technischen Zustands verkehrsuntauglich ist.

Am 7. Februar 2018 wurde der Powiat Ostrowski (Landkreis Ostrów, Polen), eine Gebietskörperschaft, auf gerichtlichem Wege Eigentümerin eines in Polen zugelassenen Fahrzeugs, nachdem ein Einziehungsbeschluss ergangen war. Nach der Zustellung dieses Beschlusses am 20. April 2018 versicherte der Landkreis das Fahrzeug am nächsten Tag, an dem die Verwaltung geöffnet hatte, d. h. am Montag, den 23. April 2018.

Aufgrund seines schlechten technischen Zustands beschloss der Landkreis, das Fahrzeug verschrotten zu lassen, um es zerlegen zu lassen. Auf der Grundlage der Bescheinigung der Verschrottungsstelle wurde das Fahrzeug am 22. Juni 2018 abgemeldet.

Am 10. Juli 2018 verhängte der Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny (Versicherungsgarantiefonds, Polen) gegen den Landkreis eine Geldbuße von 4.200 PLN (etwa 933 Euro), weil er seine Pflicht zum Abschluss eines Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags für das Fahrzeug im Zeitraum vom 7. Februar bis 22. April 2018 (im Folgenden: streitiger Zeitraum) verletzt habe.

Der Landkreis hat beim Sąd Rejonowy w Ostrowie Wielkopolskim (Rayongericht Ostrów Wielkopolski, Polen) Klage auf Feststellung erhoben, dass er im streitigen Zeitraum nicht verpflichtet gewesen sei, das Fahrzeug zu versichern. Das Rayongericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob eine Pflicht besteht, einen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrag1 für ein in einem Mitgliedstaat zugelassenes Fahrzeug abzuschließen, das auf einem Privatgrundstück abgestellt ist, wegen seines technischen Zustands nicht verkehrstauglich ist und nach dem Willen seines Eigentümers verschrottet werden soll.

Mit seinem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass der Abschluss eines Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags obligatorisch ist, wenn das betreffende Fahrzeug in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, sofern das Fahrzeug nicht gemäß der anwendbaren nationalen Regelung ordnungsgemäß stillgelegt worden ist.

Würdigung durch den Gerichtshof

Erstens stellt der Gerichtshof fest, dass der Abschluss eines Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherungsvertrags grundsätzlich obligatorisch ist für ein Fahrzeug, das in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, sich auf einem Privatgrundstück befindet und nach dem Willen seines Eigentümers verschrottet werden soll, selbst wenn das Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt wegen seines technischen Zustands nicht verkehrstauglich ist.

Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass der Begriff „Fahrzeug“2 objektiv ist und von dem Gebrauch, der von dem fraglichen Fahrzeug gemacht wird oder gemacht werden kann, oder auch von der tatsächlichen Nutzungsabsicht seines Eigentümers oder einer anderen Person unabhängig ist.

Der technische Zustand eines Fahrzeugs kann sich aber im Lauf der Zeit ändern, und seine etwaige Instandsetzung hängt von subjektiven Faktoren ab wie insbesondere dem Willen seines Eigentümers oder Verfügungsberechtigten, die erforderlichen Reparaturen vorzunehmen oder vornehmen zu lassen, und der Verfügbarkeit der hierzu erforderlichen Mittel. Daher würde der objektive Charakter des Begriffs „Fahrzeug“ in Frage gestellt, wenn die bloße Tatsache, dass ein Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht verkehrstauglich ist, genügte, um ihm seine Eigenschaft als Fahrzeug zu nehmen und es der Versicherungspflicht zu entziehen. Zudem ist die Versicherungspflicht3 nicht davon abhängig, ob das Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt als Transportmittel genutzt worden ist oder ob es einen Schaden verursacht hat. Folglich lässt sich die Versicherungspflicht nicht allein deshalb ausschließen, weil ein zugelassenes Fahrzeug zu einem bestimmten Zeitpunkt wegen seines technischen Zustands verkehrsuntauglich und somit außerstande ist, einen Schaden zu verursachen, und zwar selbst wenn dies seit dem Übergang des Eigentums an dem Fahrzeug der Fall ist. Desgleichen gestattet allein die Tatsache, dass der Eigentümer oder eine andere Person die Absicht hat, das Fahrzeug verschrotten zu lassen, nicht die Annahme, dass es seine Eigenschaft als „Fahrzeug“ verliert und somit nicht mehr von dieser Versicherungspflicht erfasst wird. Die Einstufung als „Fahrzeug“ und der Umfang der Versicherungspflicht dürfen nämlich nicht von diesen subjektiven Faktoren abhängen, da die Vorhersehbarkeit, Stabilität und Fortdauer dieser Pflicht beeinträchtigt würde, deren Einhaltung jedoch erforderlich ist, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten.

Zweitens entscheidet der Gerichtshof, dass die grundsätzliche Pflicht, ein Fahrzeug zu versichern, das in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, sich auf einem Privatgrundstück befindet und nach dem Willen seines Eigentümers verschrottet werden soll, selbst wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt wegen seines technischen Zustands nicht verkehrstauglich ist, zum einen geboten ist, um den Schutz der Opfer von Verkehrsunfällen sicherzustellen, da das Tätigwerden der Stelle, die für Sach- oder Personenschäden, welche durch ein nicht versichertes Fahrzeug verursacht worden sind, Ersatz zu leisten hat4, nur in den Fällen vorgesehen ist, in denen der Abschluss der Versicherung obligatorisch ist. Diese Auslegung gewährleistet nämlich, dass die Opfer in jedem Fall entschädigt werden, sei es durch den Versicherer aufgrund eines zu diesem Zweck geschlossenen Vertrags, sei es durch die Entschädigungsstelle, wenn das am Unfall beteiligte Fahrzeug nicht versichert war oder nicht ermittelt worden ist. Zum anderen lässt sich mit ihr die Wahrung des Zieles der Gewährleistung des freien Verkehrs sowohl der Fahrzeuge, die ihren gewöhnlichen Standort im Unionsgebiet haben, als auch der in ihnen befindlichen Personen besser sicherstellen. Denn nur dann, wenn ein verstärkter Schutz der etwaigen Opfer von Verkehrsunfällen gewährleistet ist, kann von den Mitgliedstaaten verlangt werden5, im Hinblick auf Fahrzeuge, die aus einem anderen Mitgliedstaat in ihr Hoheitsgebiet gelangen, von der Durchführung einer systematischen Kontrolle der Haftpflichtversicherung abzusehen, was zur Gewährleistung dieses freien Verkehrs wesentlich ist.

Drittens und Letztens stellt der Gerichtshof fest, dass der Ausschluss eines Fahrzeugs von der Versicherungspflicht erfordert, dass es gemäß der anwendbaren nationalen Regelung offiziell stillgelegt worden ist. Denn die Zulassung eines Fahrzeugs bescheinigt zwar grundsätzlich, dass es verkehrstauglich ist und somit als Transportmittel eingesetzt werden kann, doch kann ein zugelassenes Fahrzeug wegen seines schlechten technischen Zustands objektiv und definitiv verkehrsuntauglich sein. Die Feststellung dieser Verkehrsuntauglichkeit und des Verlusts seiner Eigenschaft als „Fahrzeug“ ist jedoch objektiv vorzunehmen. Insoweit kann die Abmeldung des Fahrzeugs zwar eine solche objektive Feststellung sein, doch sieht das Unionsrecht6 nicht vor, wie ein Fahrzeug vorschriftsgemäß stillgelegt werden kann. Folglich kann diese Stilllegung gemäß der anwendbaren nationalen Regelung auf anderem Wege als durch die Abmeldung des betreffenden Fahrzeugs festgestellt werden.

Fußnoten

1 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. 2009, L 263, S. 11).
2 Art. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2009/103.
3 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103.
4 Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103.
5 Art. 4 der Richtlinie 2009/103.
6 Richtlinie 2009/103.

Quelle: EuGH