EuGH, Pressemitteilung vom 22.09.2020 zum Urteil C-594/18 P vom 22.09.2020
Der Gerichtshof bestätigt den Beschluss, mit dem die Kommission die britischen Beihilfen zugunsten des Kernkraftwerks Hinkley Point C genehmigt hat.
Mit Beschluss vom 8. Oktober 20141 genehmigte die Europäische Kommission die Beihilfen, die das Vereinigte Königreich zur Förderung der Schaffung neuer Kapazitäten der Erzeugung von Kernenergie zugunsten des Kernkraftwerks Hinkley Point C gewähren will. Das Kraftwerk liegt an der Küste des Vereinigten Königreichs (Grafschaft Somerset). Es soll 2023 in Betrieb gehen und 60 Jahre laufen. Gewährt werden sollen die Beihilfen der zukünftigen Betreiberin des Kraftwerks, der NNB Generation Company Limited (im Folgenden: NNB Generation), einer Tochtergesellschaft der EDF Energy plc. Es geht um drei Beihilfemaßnahmen.
Die erste Maßnahme ist ein „Contract for Difference“2, mit dem während des Betriebs von Hinkley Point C für den verkauften Strom Preisstabilität gewährleistet werden soll. Die zweite Maßnahme besteht in einer Vereinbarung zwischen NNB Generation und dem Ministerium für Energie und Klimawandel des Vereinigten Königreichs, mit der für den Fall einer politisch bedingten vorzeitigen Abschaltung des Kernkraftwerks eine Ausgleichszahlung garantiert wird. Bei der dritten Maßnahme handelt es sich um eine Kreditgarantie des Vereinigten Königreichs für die von NNB Generation emittierten Schuldverschreibungen, mit der die fristgerechte Begleichung abgedeckter Verbindlichkeiten (Zinsen und Tilgung) garantiert wird.
Die Kommission stellte in ihrem Beschluss fest, dass die drei Beihilfemaßnahmen gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV mit dem Binnenmarkt vereinbar seien. Nach dieser Bestimmung können Beihilfen zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete, soweit sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden.
Österreich erhob beim Gericht der Europäischen Union Klage auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission. Die Klage wurde mit Urteil vom 12. Juli 20183 abgewiesen.
Dagegen legte Österreich4 beim Gerichtshof ein Rechtsmittel ein. Der Gerichtshof hatte im Kern über die bislang nicht entschiedene Frage zu befinden, ob der Bau eines Kernkraftwerks in den Genuss einer von der Kommission gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV genehmigten staatlichen Beihilfe kommen kann. Der Gerichtshof hat dies bejaht. Er hat das Rechtsmittel zurückgewiesen.
Der Gerichtshof hat zunächst darauf hingewiesen, dass eine staatliche Beihilfe nach Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden kann, wenn sie zwei Voraussetzungen erfüllt: Sie muss zur Förderung der Entwicklung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete bestimmt sein (1) und darf die Handelsbedingungen nicht in einem Maße verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft (2). Nicht erforderlich ist hingegen, dass mit der geplanten Beihilfe ein Ziel von gemeinsamem Interesse verfolgt wird. Entsprechend hat der Gerichtshof die verschiedenen Argumente Österreichs, mit denen geltend gemacht wurde, dass der Bau eines neuen Kernkraftwerks kein Ziel von gemeinsamem Interesse sei, als unbegründet zurückgewiesen.
Der Gerichtshof hat ferner bestätigt, dass die Vorschriften des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen, sofern der Euratom-Vertrag keine speziellen Regelungen enthält, im Bereich der Kernenergie anwendbar sind. Anders als das Gericht entschieden hat, steht der Euratom-Vertrag auch der Anwendung von den Bereich der Umwelt betreffenden Vorschriften des Unionsrechts im Bereich der Kernenergie nicht entgegen. Eine staatliche Beihilfe zugunsten eines Wirtschaftszweigs, der zum Bereich der Kernenergie gehört, kann daher, wenn sich herausstellt, dass sie gegen den Bereich der Umwelt betreffende Vorschriften des Unionsrechts verstößt, nicht für mit dem Binnenmarkt vereinbar erklärt werden. Der Rechtsfehler, der dem Gericht insoweit unterlaufen ist, hat sich aber letztlich nicht auf den Tenor des angefochtenen Urteils ausgewirkt. Denn der Grundsatz des Umweltschutzes, das Vorsorgeprinzip, das Verursacherprinzip und der Grundsatz der Nachhaltigkeit, auf die sich Österreich zur Stützung seiner Nichtigkeitsklage berufen hat, stehen jedenfalls nicht dem entgegen, dass staatliche Beihilfen für den Bau oder den Betrieb eines Kernkraftwerks gewährt werden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Ansatz, für den sich Österreich ausgesprochen hat, nicht mit Art. 194 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV vereinbar wäre. Nach dieser Bestimmung hat ein Mitgliedstaat das Recht, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen. Eine Entscheidung für die Kernenergie wird in der Vorschrift nicht ausgeschlossen.
Sodann hat der Gerichtshof das Vorbringen Österreichs zurückgewiesen, das Gericht habe den relevanten Wirtschaftszweig im Sinne von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV nicht richtig definiert. Er hat insoweit festgestellt, dass die Erzeugung von Kernenergie, die mit den in Rede stehenden Maßnahmen gefördert werden soll, durchaus einen Wirtschaftszweig im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Der Gerichtshof hat ferner darauf hingewiesen, dass die Bestimmung des Produktmarkts des betreffenden Wirtschaftszweigs nur für die Prüfung der zweiten Voraussetzung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV relevant ist, nämlich, dass die geplante Beihilfe die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern darf, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. Im vorliegenden Fall hatte die Kommission als relevanten Markt den liberalisierten Markt für Stromerzeugung und ‑versorgung bestimmt.
Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Annahme des Gerichts, dass das Versagen des relevanten Markts zwar einen maßgeblichen Gesichtspunkt für die Erklärung der Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt darstellen kann, sein Fehlen aber nicht unbedingt bedeutet, dass die Beihilfe nicht mit dem Binnenmarkt vereinbar wäre.
Was die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der geplanten Beihilfe zugunsten von Hinkley Point C angeht, hat der Gerichtshof zunächst festgestellt, dass das Gericht die Verhältnismäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahmen im Hinblick auf den Stromversorgungsbedarf des Vereinigten Königreichs geprüft und in dabei zu Recht bestätigt hat, dass es dem Vereinigten Königreich freisteht, die Zusammensetzung seines Energiemixes zu bestimmen. Die Kommission brauchte bei der Prüfung der Voraussetzung, dass die geplante Beihilfe die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern darf, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, auch nicht zu berücksichtigen, inwieweit sich die betreffenden Beihilfemaßnahmen nachteilig auf die Verwirklichung des Grundsatzes des Umweltschutzes, des Vorsorgeprinzips, des Verursacherprinzips und des Grundsatzes der Nachhaltigkeit, auf die sich Österreich berufen hat, auswirken. Unbeschadet der Prüfung, ob die geförderte Tätigkeit nicht gegen die den Bereich der Umwelt betreffenden Vorschriften des Unionsrechts verstößt, muss die Kommission im Rahmen der Prüfung der Voraussetzung, dass die geplante Beihilfe die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern darf, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, nicht etwaige andere nachteilige Auswirkungen als die nachteiligen Auswirkungen auf den Wettbewerb und den Handel zwischen den Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Schließlich hat der Gerichtshof bestätigt, dass weder die Kommission noch das Gericht bei der Prüfung der Vereinbarkeit der in Rede stehenden Maßnahmen mit dem Binnenmarkt verpflichtet waren, die Maßnahmen förmlich als „Investitionsbeihilfen“ – die die Voraussetzungen von Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV erfüllen können – oder als „Betriebsbeihilfen“ – die nach dieser Bestimmung grundsätzlich nicht genehmigungsfähig sind – einzustufen.
Fußnoten
1 Beschluss (EU) 2015/658 der Kommission vom 8. Oktober 2014 über die vom Vereinigten Königreich geplante staatliche Beihilfe SA.34947 (2013/C) (ex 2013/N) zugunsten des Kernkraftwerks Hinkley Point C (ABl. 2015, L 109, S. 44).
2 Parteien dieses Vertrags sind NNB Generation und die Low Carbon Contracts Ltd, eine Einrichtung, zu deren Finanzierung alle lizenzierten Stromversorger gemeinsam gesetzlich verpflichtet sind.
3 Urteil vom 12. Juli 2018, Österreich/Kommission, T-356/15, vgl. auch Pressemitteilung Nr. 104/18.
4 Dem Verfahren vor dem Gerichtshof sind wie vor dem Gericht Luxemburg als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge Österreichs und die Tschechische Republik, Frankreich, Ungarn, Polen, die Slowakei und das Vereinigte Königreich als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission beigetreten.
Quelle: EuGH