EU-Recht - 2. September 2021

EuGH zu Bestimmungen der Verordnung über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr

EuGH, Pressemitteilung vom 02.09.2021 zum Urteil C-570/19 vom 02.09.2021

Der Gerichtshof erläutert einige Bestimmungen der Verordnung über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr.

Die Pflichten zu anderweitiger Beförderung und zur Entschädigung bei Annullierung eines Verkehrsdienstes stehen in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit der Verordnung verfolgten Ziel.

In einem Rechtsstreit zwischen der Gesellschaft Irish Ferries Ltd, einer irischen Schifffahrtsgesellschaft, und der National Transport Authority (NTA) (nationale Transportbehörde, Irland) über die Anwendung der Verordnung Nr. 1177/20101 auf die Annullierung der von Irish Ferries zwischen Dublin (Irland) und Cherbourg (Frankreich) vorgesehenen Überfahrten einer gesamten Saison ist ein Vorabentscheidungsersuchen gestellt worden.

Irish Ferries erbringt Personenverkehrsdienste zwischen Häfen in Irland, im Vereinigten Königreich und in Frankreich. Um eine neue Strecke zwischen Dublin und Cherbourg zu bedienen, bestellte sie ein neues Schiff, das zwischen Mai und Juni 2018 geliefert werden sollte. Im Oktober 2017 begann sie mit dem Vorverkauf von Fahrscheinen für die Sommersaison 2018. Aufgrund von Verzögerungen bei einigen von der Werft beauftragten Ausstattern musste Irish Ferries zunächst die Überfahrten für Juli und dann diejenigen für die gesamte Saison annullieren. Das Schiff wurde nämlich erst im Dezember 2018 geliefert, und Irish Ferries konnte kein Ersatzschiff beschaffen, mit dem sich dieser Dienst gewährleisten ließ. Alle Fahrgäste wurden mindestens sieben Wochen vor dem ursprünglich vorgesehenen Abfahrtstermin von der Annullierung ihrer Fahrscheine benachrichtigt.

Irish Ferries bot den Fahrgästen an, sie entweder von bzw. nach anderen Häfen zu befördern, darunter auch über die Landbrücke, d. h. mit einer Überfahrt von einem Hafen in Irland (oder Frankreich) zu einem Hafen im Vereinigten Königreich und anschließender Fahrt über Land zu einem anderen Hafen im Vereinigten Königreich, von dem die Fahrgäste ihre Reise durch eine zweite Überfahrt zu einem Hafen in Frankreich (oder Irland) fortsetzen würden, oder ihnen den Preis ihrer Fahrscheine vollständig zu erstatten.

Nachdem die NTA eine Entscheidung erlassen und bestätigt hatte, mit der sie feststellte, dass Irish Ferries ihre Pflichten gemäß der Verordnung Nr. 1177/2010 zur anderweitigen Beförderung und zur Entschädigung nicht eingehalten habe, wandte sich Irish Ferries an den High Court (Hoher Gerichtshof, Irland). Dieser hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof mehrere Fragen über die Auslegung und Gültigkeit der Verordnung Nr. 1177/2010 zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Würdigung durch den Gerichtshof

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die Verordnung Nr. 1177/2010 anwendbar ist, wenn ein Beförderer einen Personenverkehrsdienst mehrere Wochen vor dem ursprünglich vorgesehenen Abfahrtstermin annulliert, weil das für diesen Dienst eingeplante Schiff verspätet geliefert wird und nicht ersetzt werden kann. Ferner stellt der Gerichtshof fest, dass die allgemeine Systematik der Verordnung Nr. 1177/2010 für eine weite Auslegung des Begriffs des Reisens mit einem Seeverkehrsdienst spricht.

Sodann weist der Gerichtshof das Vorbringen von Irish Ferries zurück, dass die Pflichten, die den Personenbeförderern im Seeverkehr im Fall der Annullierung eines Verkehrsdienstes oblägen, mit erheblichen finanziellen Belastungen verbunden seien, die völlig außer Verhältnis zu dem mit der Verordnung verfolgten Ziel stünden. Der Gerichtshof führt aus, dass mit den Maßnahmen Fahrgästen die Wahl gegeben werden soll, ob sie das Endziel durch eine anderweitige Beförderung erreichen oder auf ihre Beförderung verzichten wollen, indem sie die Erstattung des Fahrpreises beantragen. Die vorgesehene Entschädigung orientiert sich an der Dauer der Verspätung bei Ankunft am im Beförderungsvertrag festgelegten Endziel und stellt einen verhältnismäßigen Ansatz dar, der auf eine Wiedergutmachung der durch Verspätungen oder Annullierungen verursachten nachteiligen Folgen gerichtet ist, die mit der Verordnung beseitigt werden sollen.

Mit seinen Antworten auf die übrigen Fragen erläutert der Gerichtshof mehrere Gesichtspunkte der Verordnung Nr. 1177/2010:

Der Beförderer ist, wenn ein Personenverkehrsdienst annulliert wird und es auf derselben Verbindung keinen alternativen Verkehrsdienst gibt, verpflichtet, dem Fahrgast aufgrund seines in Art. 18 der Verordnung vorgesehenen Anspruchs auf anderweitige Beförderung zum Endziel unter vergleichbaren Bedingungen und zum frühestmöglichen Zeitpunkt einen alternativen Verkehrsdienst auf einer anderen Strecke als der des annullierten Dienstes oder einen Seeverkehrsdienst in Kombination mit anderen Verkehrsträgern wie dem Straßen- oder Schienenverkehr anzubieten, und hat etwaige zusätzliche Kosten zu übernehmen, die dem Fahrgast im Rahmen dieser anderweitigen Beförderung zum Endziel entstanden sind.

In dem Fall, dass der Beförderer einen Personenverkehrsdienst mehrere Wochen vor dem ursprünglich vorgesehenen Abfahrtstermin annulliert, hat der Fahrgast, der sich dafür entscheidet, zum frühestmöglichen Zeitpunkt anderweitig befördert zu werden oder seine Reise auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, und am ursprünglich vorgesehenen Endziel mit einer Verspätung ankommt, die über den in Art. 19 der Verordnung festgelegten Schwellenwerten liegt, einen Anspruch auf Entschädigung. Entscheidet sich ein Fahrgast dagegen für die Erstattung des Fahrpreises, hat er keinen Anspruch auf Entschädigung gemäß Art. 19 der Verordnung.

Der Begriff des Fahrpreises schließt die Kosten für vom Fahrgast gewählte zusätzliche Sonderleistungen wie die Buchung einer Kabine oder eines Hundezwingers oder den Zugang zu Premium-Lounges ein.

Die verspätete Lieferung eines Fahrgastschiffes, die zur Annullierung aller Überfahrten geführt hat, die mit diesem Schiff im Rahmen einer neuen Seeverbindung vorgenommen werden sollten, fällt nicht unter den Begriff der außergewöhnlichen Umstände.

Art. 24 der Verordnung gibt dem Fahrgast, der eine Entschädigung gemäß Art. 19 der Verordnung beantragt, nicht auf, seinen Antrag innerhalb von zwei Monaten nach der tatsächlichen oder geplanten Durchführung des Verkehrsdienstes in Form einer Beschwerde beim Beförderer einzureichen.

In die Zuständigkeit einer nationalen Stelle, die ein Mitgliedstaat für die Durchsetzung der Verordnung benannt hat, fällt nicht nur der Personenverkehrsdienst, der von einem im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gelegenen Hafen aus erbracht wird, sondern auch ein Personenverkehrsdienst, der von einem im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats gelegenen Hafen aus zu einem im Hoheitsgebiet des ersteren Mitgliedstaats gelegenen Hafen erbracht wird, wenn dieser letztere Verkehrsdienst im Rahmen einer Hin- und Rückfahrt stattfindet, die insgesamt annulliert worden ist.

Fußnote

1 Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 (ABl. 2010, L 334, S. 1).

Quelle: EuGH