EU-Recht - 20. Januar 2023

EuGH zu Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen

EuGH, Pressemitteilung vom 19.01.2023 zum Urteil C-680/20 vom 19.01.2023

Missbrauch einer beherrschenden Stellung: Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen müssen geeignet sein, Verdrängungswirkungen zu entfalten.

Die Wettbewerbsbehörde ist verpflichtet, die tatsächliche Eignung zur Verdrängung auch unter Berücksichtigung der Beweise zu prüfen, die von dem Unternehmen in beherrschender Stellung vorgelegt wurden.

Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 stellte die italienische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde (im Folgenden: AGCM)1 fest, dass die Italia Mkt. Operations Srl (im Folgenden: Unilever) ihre beherrschende Stellung auf dem italienischen Markt für den Vertrieb von Speiseeis in Einzelverpackungen, das für den Konsum „Außer-Haus“, d. h. nicht im Haushalt des Verbrauchers, sondern an verschiedenen Verkaufsstellen, bestimmt sei, missbraucht habe.

Der Unilever vorgeworfene Missbrauch beruhte auf einem Verhalten, das tatsächlich nicht von dieser Gesellschaft, sondern von unabhängigen Vertriebshändlern ihrer Produkte, die den Betreibern der Verkaufsstellen Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt hatten, begangen wurde. Die AGCM war u. a. der Ansicht, dass die Praktiken, die Gegenstand der Untersuchung waren, die Möglichkeit der konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmer, in einen auf den Vorzügen ihrer Produkte beruhenden Wettbewerb zu treten, ausgeschlossen oder zumindest erschwert habe.

In diesem Rahmen fühlte sie sich nicht verpflichtet, die wirtschaftlichen Analysen zu prüfen, die Unilever vorgelegt hatte, um nachzuweisen, dass die untersuchten Praktiken nicht die Wirkung hatten, mindestens ebenso leistungsfähige Wettbewerber vom Markt zu verdrängen, da diese Analysen bei Ausschließlichkeitsklauseln völlig irrelevant seien und die Verwendung solcher Klauseln durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung ausreiche, um einen Missbrauch dieser Stellung festzustellen. Dementsprechend verhängte die AGCM gegen Unilever eine Geldbuße in Höhe von 60.668.580 Euro wegen Missbrauchs ihrer beherrschenden Stellung unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV.

Die gegen diese Entscheidung erhobene Klage wurde vom erstinstanzlichen Gericht in vollem Umfang abgewiesen. Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), der mit einem Rechtsmittel befasst wurde, legte dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung nach der Auslegung und der Anwendung des Wettbewerbsrechts der Union im Hinblick auf die Entscheidung der AGCM vor.

Mit seinem Urteil konkretisiert der Gerichtshof die Modalitäten der Durchführung des Verbots des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung nach Art. 102 TAEUV angesichts eines beherrschenden Unternehmens, dessen Vertriebsnetz ausschließlich vertraglich organisiert ist, und erläutert in diesem Zusammenhang die Beweislast der nationalen Wettbewerbsbehörde.

Würdigung durch den Gerichtshof

Zunächst stellt der Gerichtshof fest, dass das missbräuchliche Verhalten von Vertriebshändlern, die Teil des Vertriebsnetzes eines Herstellers in beherrschender Stellung, wie Unilever, sind, diesem nach Art. 102 AEUV zugerechnet werden kann, wenn feststeht, dass dieses Verhalten von den Vertriebshändlern nicht selbständig angenommen wurde, sondern Teil einer einseitig von diesem Hersteller beschlossenen und mittels dieser Vertriebshändler umgesetzten Politik ist. In einem solchen Fall sind nämlich die Vertriebshändler und folglich auch das Vertriebsnetz, das sie mit dem beherrschenden Unternehmen bilden, als bloßes Instrument zur territorialen Verbreitung der Geschäftspolitik dieses Unternehmens und damit als Instrument anzusehen, mit dem die fragliche Verdrängungspraxis gegebenenfalls umgesetzt worden ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Vertriebshändler eines Herstellers in beherrschender Stellung die Betreiber der Verkaufsstellen Standardverträge, die von diesem Hersteller bereitgestellt wurden und zugunsten seiner Produkte Ausschließlichkeitsklauseln enthalten, unterzeichnen lassen müssen.

Dann antwortet der Gerichtshof auf die Frage, ob die zuständige Wettbewerbsbehörde in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens für die Anwendung von Art. 102 AEUV nachweisen muss, dass die Ausschließlichkeitsklauseln in Vertriebsverträgen die Wirkung haben, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie das Unternehmen in beherrschender Stellung vom Markt auszuschließen, und ob diese Behörde verpflichtet ist, die von diesem Unternehmen vorgelegten wirtschaftlichen Analysen eingehend zu prüfen, insbesondere wenn sie auf dem Test des „ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers“ beruhen.

Dazu weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung insbesondere dann nachgewiesen werden kann, wenn das vorgeworfene Verhalten für ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie den Urheber dieses Verhaltens in Bezug auf die Kostenstruktur, die Innovationsfähigkeit oder die Qualität Verdrängungswirkung entfaltet hat oder wenn dieses Verhalten auf der Nutzung anderer Mittel als derjenigen beruhte, die zu einem „normalen“ Wettbewerb, d. h. einem Leistungswettbewerb, gehören. Im Allgemeinen obliegt es den Wettbewerbsbehörden, die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens unter Berücksichtigung aller relevanten tatsächlichen Umstände des fraglichen Verhaltens nachzuweisen, was diejenigen einschließt, die durch die vom Unternehmen in beherrschender Stellung zur Verteidigung vorgelegten Beweise hervorgehoben werden.

Um die Missbräuchlichkeit eines Verhaltens nachzuweisen, muss eine Wettbewerbsbehörde zwar nicht notwendigerweise beweisen, dass dieses Verhalten tatsächlich wettbewerbswidrige Wirkungen erzeugt hat. Daher kann eine Wettbewerbsbehörde einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV feststellen, indem sie nachweist, dass das in Rede stehende Verhalten in dem Zeitraum, in dem es stattgefunden hat, unter den Umständen des konkreten Falls trotz seiner fehlenden Wirkung in der Lage war, den Leistungswettbewerb zu beschränken.

Dieser Nachweis muss jedoch grundsätzlich auf greifbare Beweise gestützt sein, die, indem sie über eine bloße Annahme hinausgehen, die tatsächliche Eignung der in Rede stehenden Praxis zeigen, solche Wirkungen zu entfalten, wobei, falls Zweifel daran bestehen, diese dem Unternehmen, das eine solche Praxis anwendet, zugutekommen müssen.

Eine Wettbewerbsbehörde kann sich zwar für die Beurteilung der Frage, ob das Verhalten eines Unternehmens geeignet ist, den Wettbewerb zu beschränken, auf die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften stützen, die durch empirische oder verhaltensbezogene Studien bestätigt werden, doch sind andere Faktoren, die den Umständen des konkreten Falles eigen sind, wie der Umfang dieses Marktverhaltens, die Kapazitätsengpässe der Rohstofflieferanten oder die Tatsache, dass das Unternehmen in beherrschender Stellung zumindest für einen Teil der Nachfrage ein unvermeidbarer Partner ist, bei der Prüfung der Frage zu berücksichtigen, ob das fragliche Verhalten in Anbetracht dieser Erkenntnisse so zu verstehen ist, dass es geeignet war, Verdrängungseffekte auf dem betreffenden Markt zu entfalten.

In diesem Zusammenhang geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs speziell in Bezug auf die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln hervor, dass Klauseln, mit denen sich Vertragspartner verpflichtet haben, ihren gesamten Bedarf oder einen beträchtlichen Teil desselben bei einem Unternehmen in beherrschender Stellung zu beziehen, auch wenn sie nicht mit Rabatten verbunden sind, naturgemäß eine Ausnutzung einer beherrschenden Stellung darstellen und dass dies auch für die Treuerabatte eines solchen Unternehmens gilt.

Im Urteil Intel/Kommission2 hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung jedoch erstens dahin konkretisiert, dass, wenn ein Unternehmen in beherrschender Stellung im Verwaltungsverfahren unter Vorlage von Beweisen für seine Behauptungen geltend macht, dass sein Verhalten nicht geeignet gewesen sei, die beanstandeten Verdrängungswirkungen zu erzeugen, die Wettbewerbsbehörde u. a. verpflichtet ist, das eventuelle Vorliegen einer Strategie zur Verdrängung der Wettbewerber, die mindestens ebenso leistungsfähig sind wie das Unternehmen in beherrschender Stellung, zu prüfen.

Zweitens ist die Analyse der Eignung zur Verdrängung ebenfalls maßgeblich für die Beurteilung der Frage, ob sich ein Rabattsystem, das grundsätzlich unter das Verbot des Art. 102 AEUV fällt, objektiv rechtfertigen lässt. Außerdem kann die für den Wettbewerb nachteilige Verdrängungswirkung eines Rabattsystems durch Effizienzvorteile ausgeglichen oder sogar übertroffen werden, die auch dem Verbraucher zugutekommen. Eine solche Abwägung der für den Wettbewerb vorteilhaften und nachteiligen Auswirkungen der beanstandeten Praxis auf den Wettbewerb kann jedoch nur im Anschluss an eine Analyse der dieser Praxis innewohnenden Eignung zur Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber wie des Unternehmens in beherrschender Stellung vorgenommen werden

Diese Konkretisierung, die im Urteil Intel/Kommission in Bezug auf Rabattsysteme vorgenommen wurde, ist so zu verstehen, dass sie auch für Ausschließlichkeitsklauseln gilt. Daraus folgt zum einen, dass eine Wettbewerbsbehörde, wenn sie den Verdacht hat, dass ein Unternehmen durch die Verwendung solcher Klauseln gegen Art. 102 AEUV verstoßen hat, und dieses Unternehmen im Lauf des Verfahrens gestützt auf Beweise die konkrete Eignung dieser Klauseln, ebenso leistungsfähige Wettbewerber vom Markt auszuschließen, in Abrede stellt, im Stadium der Einstufung der Zuwiderhandlung sicherstellen muss, dass diese Klauseln unter den Umständen des konkreten Falles tatsächlich geeignet waren, ebenso leistungsfähige Wettbewerber wie dieses Unternehmen vom Markt ausschließen.

Zum anderen ist die Wettbewerbsbehörde, die dieses Verfahren eingeleitet hat, auch verpflichtet, konkret zu beurteilen, ob diese Klauseln geeignet sind, den Wettbewerb zu beschränken, wenn das unter Verdacht stehende Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorträgt, dass es Rechtfertigungen für sein Verhalten gibt.

Jedenfalls begründet die Vorlage von Beweisen im Laufe des Verfahrens, die die fehlende Eignung, wettbewerbsbeschränkende Wirkungen hervorzurufen, belegen können, die Verpflichtung der Wettbewerbsbehörde, diese Beweise zu prüfen.

Folglich kann die zuständige Wettbewerbsbehörde, wenn das Unternehmen in beherrschender Stellung eine Wirtschaftsstudie vorgelegt hat, um zu zeigen, dass die ihm zur Last gelegte Praxis nicht geeignet war, Wettbewerber zu verdrängen, die Relevanz dieser Studie nicht ausschließen, ohne die Gründe darzulegen, aus denen sie der Ansicht ist, dass diese Studie es nicht ermögliche, zum Nachweis der fehlenden Eignung der in Rede stehenden Praktiken, den wirksamen Wettbewerb auf dem betreffenden Markt zu beeinträchtigen, beizutragen, und demnach ohne diesem Unternehmen die Möglichkeit zu geben, das Beweisangebot zu ermitteln, das an deren Stelle treten könnte.

Da das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausdrücklich auf den Test des „ebenso leistungsfähigen Wettbewerbers“ Bezug genommen hat, führt der Gerichtshof schließlich aus, dass ein solcher Test nur eine von mehreren Methoden ist, mit der beurteilt werden kann, ob eine Praxis geeignet ist, Verdrängungswirkungen zu entfalten. Folglich können die Wettbewerbsbehörden rechtlich nicht verpflichtet sein, für die Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Praxis auf diesen Test zurückzugreifen. Werden die Ergebnisse eines solchen Tests jedoch von dem betreffenden Unternehmen im Verwaltungsverfahren vorgelegt, so ist die Wettbewerbsbehörde verpflichtet, deren Beweiswert zu prüfen.

Fußnoten

1 Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien).
2 Urteil vom 6 September 2017, Intel/Kommission, C 413/14 P (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 90/17).

Quelle: EuGH