Zivilrecht - 15. September 2022

Erstattung geleisteter Zahlungen für Pauschalreise trotz Corona gerechtfertigt

EuGH, Pressemitteilung vom 15.09.2022 zu den Schlussanträgen in den Rs. C-396/21 und C-407/21 vom 15.09.2022

Tourismus in Zeiten der Pandemie: Nach Ansicht von Generalanwältin Medina sind Reiseveranstalter, die einen Pauschalreisevertrag nicht erfüllen können, aufgrund der Pandemie nicht von der Verpflichtung befreit, den Preis zu mindern und, falls der Vertrag storniert wird, eine Erstattung in Geld vorzunehmen, es sei denn, es liegen nachweislich außerordentliche Schwierigkeiten vor.

Die außergewöhnlichen Auswirkungen von COVID-19 auf den Tourismussektor können eine vorübergehende Ausnahme von der Verpflichtung des Veranstalters, einem Verbraucher im Fall der Stornierung der Pauschalreise alle geleisteten Zahlungen innerhalb von 14 Tagen voll zu erstatten, ausnahmsweise rechtfertigen; jedoch muss jede durch die Vertragswidrigkeit der Pauschalreise bedingte Preisminderung im Hinblick auf sämtliche Umstände des Einzelfalls angemessen sein.

Die COVID-19-Pandemie gehört zu den schwersten gesundheitlichen Notlagen der Gegenwart und hat sich auch auf die Wirtschaft schädlich ausgewirkt, u. a. auf den Tourismussektor, der zu den am schwersten und unmittelbarsten beeinträchtigten Sektoren zählt.

Die Rechtssache C-396/21, FTI Touristik (Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln), betrifft einen konkreten Aspekt der Auswirkungen der Pandemie, und zwar im Zusammenhang mit Pauschalreiseverträgen im Sinne der Richtlinie 2015/23021 und den Rechten von Reisenden. Die Kläger des Ausgangsverfahrens buchten eine vierzehntägige Urlaubsreise von Deutschland auf die Kanarischen Inseln für den Zeitraum vom 13. bis 27. März 2020. Aufgrund der Pandemie endete ihre Reise nach sieben Tagen und sie kehrten nach Deutschland zurück, wo sie eine Preisminderung in Höhe von 70 % des anteiligen Reisepreises für sieben Tage verlangten. Das Landgericht München I hat dem Gerichtshof der Europäischen Union die Frage vorgelegt, ob der Reisende nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2015/2302 Anspruch auf eine Preisminderung wegen einer Vertragswidrigkeit in Bezug auf den Pauschalreisevertrag hat, wenn die Vertragswidrigkeit auf Einschränkungen zurückzuführen ist, die angeordnet wurden, um die Ausbreitung einer Infektionskrankheit weltweit einzudämmen.

Die Rechtssache C-407/21, UFC – Que Choisir und CLCV, betrifft insbesondere die Rechtmäßigkeit des Erlasses nationaler Maßnahmen, die vorübergehende Ausnahmen vom Verbraucherrecht in Bezug auf Pauschalreiseverträge vorsehen. Die Klägerinnen, bei denen es sich um französische Verbraucherschutzverbände handelt, machen u. a. die Rechtswidrigkeit der Ordonnance Nr. 2020-315 vom 25. März 2020 geltend, in der die Voraussetzungen für die Beendigung von Urlaubsaufenthalten im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände oder höherer Gewalt geregelt waren. Unter diesen Voraussetzungen erlaubte die Ordonnance den Reiseveranstaltern die Ausstellung eines Gutscheins anstelle der vollständigen Erstattung aller Zahlungen der Reisenden, was eine Abweichung von den Anforderungen der Richtlinie 2015/2302 darstellte. Der französische Staatsrat erläutert, dass die Ordonnance erlassen worden sei, um die Liquidität und Solvenz der Leistungserbringer zu sichern. Damals hätten sich mehr als 7 000 in Frankreich registrierte Reiseveranstalter in großen Schwierigkeiten befunden. Unter diesen Umständen hätte eine sofortige Erstattung für alle stornierten Leistungen diese Reiseveranstalter in wirtschaftliche Not gebracht und damit die Möglichkeit gefährdet, Kunden alle von ihnen geleisteten Zahlungen zu erstatten.

In ihren heute vorgelegten Schlussanträgen in der Rechtssache C-396/21, FTI Touristik (Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln), vertritt Generalanwältin Laila Medina die Auffassung, dass der Reiseveranstalter in Anbetracht der Systematik von Art. 14 der Richtlinie 2015/2302 von seiner Verpflichtung zur Gewährung einer angemessenen Minderung des Preises für die Pauschalreise nicht befreit sei. Die Höhe der Preisminderung, auf die ein Reisender Anspruch habe, müsse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls angemessen sein; diese Festlegung sei Sache des nationalen Gerichts.

Generalanwältin Medina weist als Erstes darauf hin, dass das Ziel der Richtlinie 2015/2302 – die auch im Kontext der COVID-19-Pandemie anwendbar sei – darin bestehe, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten. Für den Anspruch auf eine Preisminderung gelte eine Voraussetzung, nämlich die „Vertragswidrigkeit“, und es bestehe eine Ausnahme, nämlich wenn die Vertragswidrigkeit dem Reisenden zuzurechnen sei. Eine Vertragswidrigkeit, die irgendeiner anderen Person zuzurechnen sei oder durch unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände bedingt sei, schließe folglich den Anspruch des Reisenden auf eine Preisminderung nicht aus.

Als Zweites führt die Generalanwältin aus, dass die im März 2020 als Reaktion auf die Pandemie angeordneten regulatorischen Einschränkungen als höhere Gewalt anzusehen seien. Die erlassenen restriktiven Maßnahmen hätten eine außerhalb der Kontrolle des Reiseveranstalters stehende Situation geschaffen, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären. Unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände befreiten den Reiseveranstalter aber nicht von seiner Verpflichtung zur Gewährung einer Preisminderung. Die Tatsache, dass die Situation auf einschränkende Maßnahmen zurückzuführen sei, die als Reaktion auf die Pandemie erlassen worden seien und Maßnahmen ähnelten, die am Wohnort des Reisenden angeordnet worden seien, lasse den Anspruch auf eine Preisminderung unberührt.

Sodann führt Generalanwältin Medina aus, dass den Reiseveranstalter keine Haftung für entgangene Urlaubsfreuden in Bezug auf Leistungen treffen könne, die vom Umfang des Reisevertrags nicht umfasst seien. Die „angemessene“ Minderung sei von den nationalen Gerichten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzulegen. Bei dieser Festlegung könne ein nationales Gericht daher die Ursache der Vertragswidrigkeit, das etwaige Vorliegen eines Verschuldens des Reiseveranstalters und die Möglichkeit, dass der Reiseveranstalter für an den Reisenden geleistete Zahlungen in der Lieferkette vorgelagerte Beteiligte oder staatliche Gelder in Anspruch nehmen könne, berücksichtigen. Auch wenn für die Zahlung der Preisminderung, auf die der Reisende Anspruch habe, keine konkrete Frist gelte, sollte sie unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern erfolgen. In diesem Zusammenhang sollten die nationalen Gerichte den pandemiebedingten Liquiditätsproblemen der Reiseveranstalter Rechnung tragen.

In ihren in der Rechtssache C-407/21, UFC – Que choisir und CLCV, vorgelegten Schlussanträgen weist Generalanwältin Medina darauf hin, dass mit dem Begriff „Erstattung“ üblicherweise ein Geldbetrag gemeint sei, der jemandem zurückgezahlt werde. Die „Erstattung“ aller getätigten Zahlungen könne daher nicht so verstanden werden, dass sie den Reiseveranstalter zur Leistung in einer mit einem Aufschub verbundenen Form der Zahlung, wie etwa einem Gutschein, berechtige. Diese Auslegung werde durch den Kontext und die Entstehungsgeschichte von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2015/2302 sowie durch das Ziel dieser Richtlinie gestützt.

Da die in der Richtlinie enthaltene Regelung allein eine Erstattung in Geld vorsehe, sei jede vom Reiseveranstalter obligatorisch vorgegebene Alternative, insbesondere in Form eines Gutscheins, ausgeschlossen. Dies hindere den Reisenden jedoch nicht daran, sich nach Eintritt des den Erstattungsanspruch begründenden Ereignisses freiwillig für den Erhalt eines solchen Gutscheins zu entscheiden.

Generalanwältin Medina vertritt die Auffassung, Ausnahmen vom Freizügigkeitsrecht der Union könnten Ausnahmen von einer konkreten Bestimmung des sekundären Unionsrechts, insbesondere vom Erstattungsanspruch des Reisenden, nicht rechtfertigen. Nach ihrem Verständnis der Richtlinie 2015/2302 ist die Pandemie weder vom Bedeutungsumfang des Begriffs „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ noch vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie insgesamt ausgenommen.

Der Grundsatz der höheren Gewalt bei objektiver Unmöglichkeit der Einhaltung des Unionsrechts könnte zwar eine gewisse Flexibilität bei der Rechtsanwendung gestatten und Reiseveranstaltern eine sehr begrenzte Möglichkeit einer vorübergehenden Befreiung von der Erfüllung ihrer Verpflichtungen einräumen. Das Angebot eines Gutscheins mit den in der angefochtenen Ordonnance beschriebenen Merkmalen stelle jedoch das Gleichgewicht zwischen den Parteien nicht wieder her, da es den Reisenden benachteilige.

Wenn ein Mitgliedstaat zeitweise unüberwindliche Schwierigkeiten habe, eine zur Umsetzung sekundären Unionsrechts bestimmte Vorschrift in seiner Rechtsordnung anzuwenden, sollte er ausnahmsweise auch berechtigt sein, sich auf höhere Gewalt zu berufen. Daher könnten die Pandemie und ihre außergewöhnlichen Auswirkungen auf den Tourismussektor eine vorübergehende regulatorische Ausnahme von der Verpflichtung des Veranstalters, dem Reisenden alle getätigten Zahlungen innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung des Vertrags voll zu erstatten, rechtfertigen. Eine solche Ausnahme sei nur für den Zeitraum gerechtfertigt, der erforderlich sei, um dem Mitgliedstaat die Möglichkeit zu geben, die unüberwindlichen Schwierigkeiten auszuräumen, die ihn an der Anwendung der diese Verpflichtung umsetzenden nationalen Regelung hinderten; hierbei sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren.

Generalanwältin Medina führt aus, es obliege dem Mitgliedstaat, der sich auf einen Fall höherer Gewalt berufe, nachzuweisen, dass eine Abweichung vom Unionsrecht erforderlich sei, um solche pandemiebedingten Schwierigkeiten zu überwinden, und es müsse feststehen, dass es keine Alternative gebe. Die von der französischen Regierung erlassene Ordonnance gehe wohl über das hinaus, was erforderlich und verhältnismäßig sei, um den Schwierigkeiten der Reiseveranstalter zu begegnen, insbesondere angesichts der Rückwirkung der streitigen Maßnahme, der Dauer der Aussetzung des Erstattungsanspruchs und des Fehlens eines dem Reisenden als Ausgleich für den Eingriff in seine Rechte aus dem Pauschalreisevertrag angebotenen Vorteils.

Fußnote

1 Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1).

Quelle: EuGH