KLARTEXT - 30. Januar 2025

Es gibt immer mehrere Wahrheiten

In unserer heutigen eng vernetzten Welt, in der Informationen in Sekundenschnelle verfügbar sind, wirkt es zunehmend so, als gäbe es nicht mehr die eine objektive Wahrheit.

Jeder Mensch nimmt die Realität anders wahr – geprägt von individuellen Erfahrungen, Überzeugungen und seinem persönlichen Kontext. Und KI-Algorithmen verstärken den Effekt in sozialen Medien noch, da Meinungen dadurch noch ver- beziehungsweise bestärkt werden. Das Ergebnis: Wahrheit wird zu etwas Subjektivem, das von der eigenen Perspektive abhängt.
Ein Beispiel: Drei Personen lesen denselben Text und fassen ihn anschließend zusammen. Obwohl die Ausgangsbasis identisch ist, entstehen drei unterschiedliche Zusammenfassungen. Der Grund? Jede Leserin und jeder Leser setzt andere Schwerpunkte, interpretiert, liest zwischen den Zeilen oder bringt unbewusst eigene Annahmen ein. Dieses Phänomen zeigt, dass wir die Welt durch einen jeweils eigenen Filter betrachten.
Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Berichterstattung der Medien. Nehmen wir ein aktuelles politisches Thema, etwa einen Konflikt, und vergleichen Berichte aus unterschiedlichen Ländern – beispielsweise aus Deutschland, den USA und Russland. Obwohl es um dasselbe Ereignis geht, unterscheiden sich die Darstellungen oft grundlegend. Manche Fakten werden betont, andere ausgelassen, und Erzählungen bewusst so gestaltet, dass sie bestimmte Sichtweisen stützen. Plötzlich stehen wir vor mehreren Wahrheiten, die einander widersprechen können.
Hier liegt eine der großen Herausforderungen unserer Zeit: Wie gehen wir mit dieser Vielfalt an Perspektiven um? Oft neigen wir dazu, nur unsere eigene Wahrheit als gültig anzuerkennen. Doch gerade in Zeiten unablässiger Informationsflüsse ist es wichtig, verschiedene Perspektiven zu betrachten, um ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten. Dabei liegt die Verantwortung zunehmend bei jedem Einzelnen. Informationen müssen aktiv gesucht und aus unterschiedlichen Quellen geprüft werden. Es reicht nicht, nur das zu übernehmen, was uns präsentiert wird – wir sollten unser Wissen eigenständig erweitern.
Ein weiterer entscheidender Aspekt ist der Umgang mit Meinungsverschiedenheiten. Anstatt abweichende Standpunkte als Angriff auf die eigene Überzeugung zu betrachten, sollten wir Diskussionen mit Respekt und Offenheit führen. Kommunikation und der Wille, andere Perspektiven zu verstehen, sind der Schlüssel zu einem besseren Miteinander. Denn in einer komplexen Welt wird selten eine einzige Wahrheit allen Aspekten gerecht.

Zum Autor

Prof. Dr. Peter Krug

Chief Markets Officer (CMO) und stellvertretender Vorstandsvorsitzender.

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