Ausnahmezustand im November - 2. November 2020

Die Welle brechen

Begleitet von milliardenschweren Nothilfen für die betroffenen Unternehmen muss unser Land ein zweites Mal in diesem Jahr das öffentliche und private Leben stark einschränken. Die getroffenen Maßnahmen finden nicht überall Akzeptanz – auch wenn die aktuellen vorübergehenden Schließungen nur ein Lockdown light sind.

Nun ist er also da. Der zweite Corona-Lockdown. Von vielen befürchtet, von manchen längst erwartet, haben sich Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten der Länder vergangene Woche auf die einschneidendsten Maßnahmen seit dem Frühjahr 2020 geeinigt. Von einer nationalen Kraftanstrengung ist die Rede, bei der zum zweiten Mal weite Teile unseres Landes für mindestens vier Wochen lahmgelegt werden. Mit dem sogenannten Wellenbrecher-Lockdown will man nun den massiv gestiegenen Infektionsketten begegnen, um nicht bei der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems an Grenzen zu stoßen.

Das gilt ab heute

Deutschlandweit dürfen sich ab heute nur noch maximal zehn Personen aus zwei Hausständen treffen. Verstöße gegen diese verbindlichen Kontaktbeschränkungen werden von den Ordnungsbehörden sanktioniert. Die Betriebe der Gastronomie müssen bis Ende des Monats geschlossen bleiben, erlaubt jedoch bleibt der Verkauf außer Haus. Beherbergungsangebote hierzulande sind ebenfalls untersagt, abgesehen von Übernachtungen aus wichtigem Grund, wie etwa bei zwingen-den Dienstreisen. In der Unterhaltungs- und Freizeitbranche sind Veranstaltungen weitgehend verboten. Diese Regelung gilt auch für den Amateursport, während der Individual- und Profisport weiterhin möglich ist. Fitnessstudios und Schwimmbäder bleiben geschlossen. Das gilt auch für Kosmetikstudios und Massagepraxen, nicht jedoch für medizinisch notwendige Behandlungen beim Physiotherapeuten, die ebenso erlaubt bleiben wie der Besuch eines Friseursalons unter den bestehenden Hygienebestimmungen. Trotz der stark gestiegenen Infektionszahlen bleiben Schulen und Kindergärten ebenso geöffnet wie der Groß- und Einzelhandel, wobei sich allerdings in den Geschäften nicht mehr als ein Kunde pro zehn Quadratmeter aufhalten darf. Schließlich sind auch Gottesdienste weiterhin möglich, allerdings unter Einhaltung bestimmter Hygienekonzepte.

Geteilte Meinung in der Presse

Sind diese massiven Einschränkungen tatsächlich notwendig und auch verhältnismäßig? Schon in der deutschen Presse scheiden sich die Geister. Nach Ansicht der Süddeutschen Zeitung muss der Nutzen von Ausgangsbeschränkungen deutlich gemacht werden, ohne den Ausführungen des RKI blind zu folgen. Laut dem Handelsblatt wäre das Corona-Virus auch ohne Lockdown beherrschbar. Nach Ansicht des Weser-Kuriers ist anzunehmen, dass die Justiz einige der Beschränkungen, die nun auf den Weg gebracht worden sind, wieder revidieren wird. Anders beurteilt das die Frankfurter Allgemeine Zeitung, nach der weder im Frühjahr noch jetzt von einem Lockdown gesprochen werden kann, sondern – man höre und staune – nur von punktuellen Einschränkungen der Grundrechte.

Kritische Stimmen

Wesentlich kritischer sehen das die Vertreter aus der Politik. Nach Ansicht der FDP sind die weitgehenden Einschränkungen, vor allem in der Hotel- und Gastronomiebranche unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig. Einige Beherbergungsverbote sind von den Gerichten vor Kurzem erst in mehreren Bundesländern aufgehoben worden. Und auch die Linkspartei spricht von unverhältnismäßigen Maßnahmen. Massive Kritik an den beschlossenen Maßnahmen üben auch Teile der Ärzteschaft, die noch vor dem Treffen zwischen Angela Merkel und den Ministerpräsidenten ein Positionspapier vorgelegt hatten. Gefordert wird ein bundesweit einheitliches Ampelsystem, das nicht ausschließlich auf den Zahlen der Neuinfektionen basiert, sondern alle relevanten Parameter, wie Infektionszahlen, An-zahl der durchgeführten Tests sowie stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten beinhaltet. Die Ärzte und Wissenschaftler rund um die beiden Virologen Prof. Hendrik Streeck und Prof. Jonas Schmidt-Chanasit wollen einen besonderen Fokus auf den Schutz der Risikogruppen legen, da diese am meisten gefährdet seien. Folglich sei der erneute Lockdown mit Blick auf die damit verbundenen Regeln unverhältnismäßig. Da das Virus ein Teil unseres Lebens bleiben dürfte, sei ein Lockdown nicht die richtige Antwort in der aktuellen Lage, wo Wirtschaftszweige vor dem Abgrund stehen und wichtige medizinische Behandlungen aufgeschoben würden. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die eine oder andere Maßnahme von den Gerichten wohl wieder außer Kraft gesetzt wird.

Die Kanzlerin kann Krisen

Anders sehen das offensichtlich weite Teile der Bevölkerung, die bereits vergangene Woche wieder anfingen, Klopapier zu hamstern. Man muss diesen Mitbürgern wohl zugutehalten, dass die dramatische Berichterstattung ob der gestiegenen Infektionszahlen die gewünschte Wirkung nicht verfehlt hat. Hinzu kommt ein bekannter Effekt. In einer akuten Notlage steigt das Vertrauen in die politische Führung. So ist es keine Überraschung, dass Angela Merkel derzeit ausgesprochen beliebt ist. Die Bundesminister und Ministerpräsidenten loben sie, und auch von der SPD und selbst der Opposition kommen freundliche Worte. Deutschland ist mal wieder Vorbild, mit einem robusten Gesundheitssystem und guten Krankheitsverläufen. Zwar hat die Kanzlerin das selbst nicht zu vertreten, aber sie hat Erfahrung mit Krisen: die Finanzkrise 2008, Fukushima 2011, die Flüchtlingskrise 2015 und nun Corona. Und so scheint es fast niemand zu kümmern, dass nicht der Bundestag als Gesetzgeber über die notwendigen Maßnahmen entscheidet, sondern die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder.

Auf verfassungsrechtlich dünnem Eis

Tatsächlich aber hat der Bundestag die ihm verfassungsrechtlich zugewiesene Rolle im Frühjahr abgegeben. Bekanntlich ist ein Grundsatz unserer Demokratie aber die Gewaltenteilung, bestehend aus Exekutive, Legislative und Judikative. Stein des Anstoßes ist der durch das erste Bevölkerungsschutzgesetz im März geschaffene sowie durch das zweite, gleichnamige Gesetz nochmals erweiterte § 5 Abs. 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG). Nachdem der Bundestag den Feststellungsbeschluss hinsichtlich einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gefasst hatte, war das Bundesgesundheitsministerium (BMG) befugt, Rechtsverordnungen zu erlassen, die Ausnahmen und Abweichungen von den Parlamentsgesetzen vorsahen. Dass die Rolle der Parlamente nach über einem halben Jahr überhaupt wieder angemahnt wird, liegt wohl an den Plänen des BMG für ein weiteres, drittes Bevölkerungsschutzgesetz, das es ermöglichen würde, per Verordnungen munter weiter zu regieren beziehungsweise die bereits beschlossenen Corona-Verordnungen nachzubessern. Vor diesem Hintergrund hatte sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble am 19. Oktober 2020 dann offen für eine Stärkung des Parlaments ausgesprochen, um den Eindruck zu vermeiden, die Pandemiebekämpfung sei ausschließlich Sache von Exekutive und Judikative. § 5 Abs. 2 IfSG schwächt vor allem die Opposition, die daraufhin forderte, zumindest den Beschluss zur epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 S. 2 IfSG aufzuheben. Bis heute aber ist die voranstehende Norm in Kraft, weil der Bundestag sich noch nicht dazu durchringen konnte, den seinerzeit getroffenen Beschluss mehrheitlich wieder zu revidieren.

Parlamentsvorbehalt contra Gewöhnungseffekte

Eine verfassungsgerichtliche Klärung ist dringend angezeigt, da jetzt schon Verstetigungs- und Gewöhnungseffekte drohen. Das Grundgesetz (GG) unterscheidet zwischen Gesetz und Rechtsverordnung. Darüber darf der Gesetzgeber schon wegen der grundlegenden Verschiedenheit der Kontroll- und Verwerfungskompetenzen nicht frei disponieren. Auf dem Spiel steht zudem das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, das eine Beteiligung der Opposition im Bundestag und gegebenenfalls auch im Bundesrat vorsieht. Fraglich ist auch, ob die gesetzlichen Ermächtigungen gemäß der §§ 28 bis 32 IfSG tatsächlich die weitreichenden Grundrechtseinschränkungen rechtfertigen. Insoweit geht es um die Forderung, dass der parlamentarische Gesetzgeber grundrechtsrelevante Fragen selbst regeln muss (allgemeiner Parlamentsvorbehalt gemäß Art. 20 Abs. 2, 3 GG).

Das Parlament ist gefordert

Da es um die schwersten Grundrechtseingriffe in der Geschichte unseres Landes geht, ist das Parlament gefordert, sich die Kontrolle zurückzuholen, die es leichtfertig aus der Hand gegeben hat. Die dauerhafte Ermächtigung der Regierung, Rechtsverordnungen zu erlassen, ist ein ernsthaftes Problem. Da wir keine epidemische Notlage haben, sondern maximal eine ernst zu nehmende Krisensituation, sind die Abgeordneten des Bundestags aufgerufen, für die Einhaltung der Grundrechte zu sorgen und ein rechtstaatliches Verfahren zu garantieren – auch und gerade über politische Parteigrenzen hinweg, selbst wenn sie unüberwindlich scheinen.

Kein Verfassungsverstoß der Regierung

Wegen der Notlage, die im Frühjahr herrschte, war die Übertragung der Rechte auf den Gesundheitsminister sowie die Ministerpräsidenten der Bundesländer seinerzeit nachvollziehbar und auch hinzunehmen. Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten handelten also nicht im rechtsfreien Raum. Jetzt aber, da es längst nicht mehr um Stunden oder Tage geht, sondern um Wochen und Monate, müssen die erteilten Ermächtigungen revidiert werden und die rechtlichen Befugnisse wieder an den Bundestag und die Länderparlamente zurückgegeben werden.

Presse und Juristen – wo bleibt Ihr?

In den vergangenen acht Monaten ist es zu massiven Einschränkungen der Grundrechte gekommen, genauso, wie in diesem Monat. Dies allein hätte sowohl in der Anwaltschaft wie auch bei der sogenannten vierten Gewalt zu öffentlichen Diskussionen führen müssen. Geht es doch nicht nur darum, die Welle der Infektionen zu brechen, sondern vielmehr eine Welle hysterischer Panikmache beziehungsweise einer fortschreitenden Einschränkung unserer Grundrechte einzudämmen. Was bis heute fehlt, ist die streitige, kontroverse Debatte. Bis auf wenige Vertreter beider Berufs-gruppen verhielten sich die meisten ruhig.

Fazit

Ob es des neuerlichen Lockdowns tatsächlich bedurfte, ist in der Politik sowie bei Ärzten und Wissenschaftlern umstritten, scheinen doch viele der beschlossenen Maßnahmen unverhältnismäßig zu sein. Laut Aussage der Kanzlerin weiß man bei bundesweit 75 Prozent der Infektionen nicht, wie sie entstanden sind; daher könne man schlicht nicht mehr sagen, welche gesellschaftlichen Bereiche derzeit zur Verbreitung beitrügen. Vor diesem Hintergrund ist es schwer nachvollziehbar, warum nun Restaurant- und Hotelbesitzer sowie Veranstalter die härtesten Einschränkungen trifft, vor allem die, die sich in den vergangenen Monaten penibel an alle Hygienevorgaben gehalten haben. Die wahren Spreader können leider nicht belangt werden, denn eine vollständige Einschränkung privater Kontakte ist der staatlichen Kontrolle entzogen. Nicht aber, wenn es nach dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder oder dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach ginge. Diese beiden Politiker stellen nun auch die Unverletzlichkeit der Wohnung in Frage beziehungsweise wollen Bürger dazu anhalten, verdächtige Zusammenkünfte in der Nachbarschaft zu melden. Glücklicherweise finden diese extremen Ansichten bei den Entscheidungsträgern keine Mehrheit.

Zum Autor

Robert Brütting

Rechtsanwalt in Nürnberg und Fachjournalist Recht sowie Redakteur beim DATEV magazin

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