Friedrich Merz gilt als brillanter Redner und scharfsinniger Analytiker. Sein Sachverstand in Wirtschaftsfragen steht nach wie vor hoch im Kurs. Auf dem DATEV-Kongress hat er über Europa und die Globalisierung gesprochen.
DATEV magazin: Sie sind Vorsitzender der Atlantik-Brücke. Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass der US-amerikanische Geheimdienst nahezu das gesamte Internet überwacht und sogar das Handy der Kanzlerin abgehört hat?
FRIEDRICH MERZ: Ich bin zunächst wie alle anderen auch ziemlich schockiert gewesen. Vor allem die Überwachung des Handys der Kanzlerin war eine große Dummheit der Amerikaner, die zu einem großen Vertrauensverlust nicht nur in Deutschland geführt hat. Bei Licht betrachtet, konnte man allerdings schon vor vielen Jahren wissen, zumindest erahnen, dass die amerikanischen Nachrichtendienste in großem Umfang dazu übergehen, den gesamten weltweiten Datenverkehr zu überwachen. Die Rechtsgrundlage dafür findet sich im Patriot’s Act vom Oktober 2001, der wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September im Kongress mit großer Mehrheit verabschiedet wurde. Spätestens seit diesem Zeitpunkt ist klar, dass die Amerikaner in einem bisher nie gekannten Umfang begonnen haben, Daten zu sammeln.
DATEV magazin: Sind solche Überwachungsaktionen nicht auch ein Zeichen von Machtlosigkeit der Politik gegenüber der Globalisierung und den großen (Internet-) Konzernen?
FRIEDRICH MERZ: Diese gigantischen Überwachungsanstrengungen sind zunächst einmal der Versuch, über die Telekommunikationsdaten früh genug von der Planung weiterer Anschläge zu erfahren. Und ganz offensichtlich ist es den Amerikanern in Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten, auch dem deutschen, gelungen, weitere Anschläge abzuwehren. Der Aufwand dafür ist allerdings immens groß und die offensichtliche Beeinträchtigung der Privatsphäre von Millionen Menschen ein hoher Preis, den es abzuwägen gilt gegen das sicher legitime und notwendige Interesse unserer Gesellschaften, weitere Anschläge zu verhindern.
DATEV magazin: Wie dauerhaft wird die Wirkung der NSA-Affäre für das deutsch-amerikanische Verhältnis sein?
FRIEDRICH MERZ: Die Umfragen zeigen ganz eindeutig, dass das Vertrauen der Deutschen in die USA durch die Datenaffäre erheblich gelitten hat. Es wird viele Jahre dauern, bis das notwendige Grundvertrauen zwischen Deutschland und Amerika wiederhergestellt ist.
DATEV magazin: Was erwarten die Amerikaner von Deutschland?
FRIEDRICH MERZ: Deutschland wird in Amerika ja nach wie vor sehr positiv beurteilt, zum Teil sogar bewundert. Insbesondere die deutsche Wirtschaft genießt in Amerika hohes und höchstes Ansehen. Allerdings erwarten die Amerikaner, dass die Deutschen entsprechend ihrem Wohlstand und ihrer Größe auch bereit sind, sich an der Lösung der großen internationalen Konflikte zu beteiligen. Amerika sieht Deutschland in einer Führungsverantwortung, die über das eigene Land und auch über Europa hinausreicht.
DATEV magazin: Was können wir Deutschen von Amerika erwarten?
FRIEDRICH MERZ: Umgekehrt, so meine ich jedenfalls, müssen die Amerikaner verstehen, dass Deutschland nur im europäischen Kontext handeln kann und will. Wir müssen von Amerika daher erwarten, dass sie für unsere europäischen Verpflichtungen Verständnis haben.
DATEV magazin: Die NSA-Affäre ist nicht das beste Umfeld für den Start eines Freihandelsabkommens. Sie halten es trotzdem für unabdingbar. Warum?
FRIEDRICH MERZ: Wir würden uns mit einem Scheitern des Freihandelsabkommens mit Amerika am meisten selbst schaden. Gerade Deutschland ist auf offene und frei zugängliche Märkte angewiesen. Das Freihandelsabkommen mit Amerika würde zwischen den USA und Europa etwas Ähnliches schaffen wie den europäischen Binnenmarkt, nur eben jetzt auf beiden Seiten des Atlantiks. Auch vom europäischen Binnenmarkt haben wir ohne Zweifel in hohem Maße profitiert.
DATEV magazin: Der frühere amerikanische Botschafter in Deutschland Bob Kimmitt meint, dass TTIP die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts so bestimmen wird wie das NATO-Abkommen die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Hat er recht?
FRIEDRICH MERZ: Ich teile diese Einschätzung von Bob Kimmitt, denn das Abkommen geht weit über seine ökonomische Bedeutung hinaus. Das Abkommen ist ein Test für unsere gegenseitige Partnerfähigkeit in Zeiten eines großen politischen und wirtschaftlichen Umbruchs.
DATEV magazin: Die Menschen in Deutschland haben Angst vor Chlorhühnchen, vor Gentechnik und vor unkalkulierbaren Schiedsgerichten – zu Recht?
FRIEDRICH MERZ: Ich teile diese Besorgnisse überhaupt nicht, kann sie aber angesichts der teils sehr negativen Berichterstattung in Deutschland nachvollziehen. Dagegen helfen nur Aufklärung und Information.
DATEV magazin: Kann eine Wertegemeinschaft – Demokratie, Rechtsstaat, Religions- und Meinungsfreiheit – nicht auch ohne ein Freihandelsabkommen funktionieren?
FRIEDRICH MERZ: Natürlich geht das Leben auch ohne Freihandelsabkommen weiter. Die Frage ist nur, ob wir dann nicht eine Chance verspielen, uns in einem sich verschärfenden globalen Wettbewerb vor allem gegen die Konkurrenz aus Asien gemeinsam zu behaupten und zu beweisen, dass unsere freiheitlichen Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks in der Lage sind, wirtschaftlichen Erfolg mit der Durchsetzung von Freiheitsrechten zu verbinden. Wir befinden uns nach meiner Einschätzung mitten in einem neuen Systemwettbewerb, wo es genau um diese Fragen geht, die zum Beispiel in China ganz anders beantwortet werden als in Europa und in den USA.
DATEV magazin: Sie sind in einer internationalen Kanzlei tätig. Womit beschäftigen Sie sich als Anwalt hauptsächlich?
FRIEDRICH MERZ: Ich war fast zehn Jahre lang Partner in der internationalen Anwaltskanzlei Mayer Brown LLP, die Standorte in Amerika, Europa und Asien unterhält, und bin seit Anfang des Jahres 2014 in der Kanzlei als Senior Counsel tätig. Ich bearbeite und betreue unverändert große nationale und internationale Mandanten, vor allem im Bereich des Gesellschaftsrechts, des Kapitalmarktrechts und bei Transaktionen. Neben meinen Aufsichtsratsmandaten ist die Anwaltstätigkeit immer noch der Schwerpunkt meiner beruflichen Tätigkeit.