Krise und Kreativität - 29. September 2022

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch …

Heutige Unternehmensberater würden es wohl etwas nüchterner formulieren als Friedrich Hölderlin und etwa dafür plädieren, die Krise als Chance zu begreifen. Auf alle Fälle ist jede Notlage eine Prüfung, zwingt zum Nachdenken und kann dabei zum Geburtshelfer großartiger Ideen werden.

Als Johann Sebastian Bach im Spätsommer 1717 seine neue Stelle als Kapellmeister bei dem jungen Fürsten Le­opold von Anhalt-Köthen antreten wollte, hatte er die Rech­nung ohne seinen bisherigen Dienstherrn, Ernst August I., Herzog von Sachsen-Weimar, gemacht. Der ließ ihn nämlich nicht so ohne Weiteres ziehen, und da Ablösezahlungen wie heutzutage im Fußball damals noch nicht in Mode waren, Bach aber fest entschlossen war, noch im selben Jahr seine neue Stelle anzutreten, kam es zum Eklat. Das Ergebnis war, dass Bach am 6. November 1717 wegen seiner „Halßstarrigen Bezeugung“ kurzerhand inhaftiert und erst einen knappen Monat später, am 2. Dezember, in Schimpf und Ungnade ent­lassen wurde. Nun möchte man sich winterliche Arrestbedin­gungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts lieber nicht ausmalen, doch Bach versank nicht in Wut oder Depression. Die Demüti­gung und Abgeschiedenheit seiner Haft setzte im Gegenteil schöpferische Kräfte frei. Er ließ Papier, Feder und Tinte kom­men und begann mit der Komposition eines der einflussreichs­ten Werke, das die Musik kennt: Das „Wohltemperierte Kla­vier“ (BWV 846–893) ist durch die 24 präsentierten Tonarten von C-Dur bis h-Moll und dank seines überragenden komposi­torischen Rangs zur Grundlage des gesamten tonalen Systems geworden, wie wir es – von ABBA bis Zappa, von Beethoven bis Wagner – seither kennen und nutzen. Nun wollen wir den Maßstab nicht zu hoch hängen, die we­nigsten Justizvollzugsanstalten entlassen ihre Insassinnen und Insassen nach Verbüßung ihrer Haft mit einem epochalen Kunstwerk unterm Arm, und überhaupt sind die Krisen und Herausforderungen, von denen in dieser Ausgabe die Rede ist und die die Restrukturierung eines Betriebs erfordern, von gänzlich anderer Art als oben vorgestellt. Dennoch ist diese Anekdote ein schönes Beispiel dafür, wie eine unerwartete Notlage Energie und Kreativität freizusetzen vermag, wenn sie die Mechanik des Lebens mit all ihren Rahmenbedingungen, Gewohnheiten, Gewissheiten, ihren Denk- und Verhaltensweisen aus den Angeln hebt.

Das große Reset

Und hierfür gibt es eine ganze Reihe positiver Beispiele, gelungene Neustarts, die nach Restrukturierung und Sanierung angeschlagene Unternehmen wieder in die Erfolgsspur gebracht haben. In einer Studie von 2017 ist die Boston Consulting Group (BCG) einmal der Frage nachgegangen, wie das gelingen kann und ob es womöglich eine Best Practice für erfolgreiche Neuausrichtungen gibt. Dafür wurden aus 159 Aktiengesellschaften mit mindestens einer halben Milliarde Euro Jahresumsatz zehn Comeback Kids herausgefiltert, also Unternehmen, deren Geschäftsentwicklung die charakteristische V-Kurve aufweit: einen steilen Absturz, dem ein ebenso rasanter Wiederaufstieg nach der Krise folgte. Die Lehre daraus und zugleich das Fazit von BCG-Studienautor Ralf Moldenhauer: „Solche Turnarounds gelingen nur, wenn man bei den ersten Krisenanzeichen handelt, Aussitzen verschlimmert die Misere.“

Ohne herbe Einschnitte geht es dabei nie. Der Büßerweg besteht in der Regel aus Kostensenkung, Personalabbau, Standortschließungen, der Bündelung von Einkauf, Vertrieb, Forschung und Entwicklung sowie der Abstoßung nicht sanierungsfähiger Geschäftsbereiche und solcher, die nur minimal rentabel dahindümpeln und dabei ineffizient Ressourcen binden. Mit einem Wort: Es geht um einen Akt der Straffung. Gleichzeitig – und dies erfordert Weitsicht und unternehmerischen Mut – gilt es, sich in neue Märkte vorzuwagen, die Produktpalette anzupassen und gegebenenfalls zu erweitern, zuweilen auch portfolioabrundende Sparten dazuzukaufen, wenn sie Umsatz- und Wertsteigerungen verheißen.

Musterbeispiel Osram

Ein Unternehmen, dem dies in bravouröser Weise gelungen ist, ist Osram. Der damalige CEO Olaf Berlien traf bei seiner Amtsübernahme auf eine von sinkenden Umsätzen, einem schwächelnden Kerngeschäft und Sparmaßnahmen zermürbte Belegschaft. Seine erste, äußerst mutige Maßnahme war die Aufgabe des Kerngeschäfts mit klassischen Leuchtmitteln, mit dem 2010 immerhin noch ein Drittel des Konzernumsatzes erwirtschaftet wurde. Analysen hatten hier einen weiter schrumpfenden Markt prognostiziert. Anschließend erfolgte der eigentliche Neustart mit dem Ausbau der Sparte Spezialbeleuchtung (Autolicht, Infrarotlicht) und kompletten Beleuchtungssystemen sowie dem Bau einer Megafabrik zur Herstellung von LED-Chips in Malaysia. Der Strategiewechsel, 2015 verkündet, führte zunächst zu einem Kurseinbruch an der Börse, zu Herabstufungen durch Analysten und einem Konflikt mit dem Großaktionär Siemens. Der Plan, durchgesetzt gegen alle Widerstände, entpuppte sich jedoch als großer Wurf: Osram produzierte plötzlich billiger als sämtliche Wettbewerber in China, Südkorea oder Taiwan. Die abgespaltene Leuchtensparte ging unter dem neuen Namen Ledvance an einen chinesischen Investor, der wiederum die bestehende, weltweite Osram-Vertriebsstruktur miterwarb und seither auch für eigene Produkte nutzen kann, unter der gleichzeitigen Verpflichtung, ein Fünftel der neuen LED-Jahresproduktion von Osram abzunehmen. Das Ergebnis war eine Win-win-Situation, die auch vonseiten der Arbeitnehmerschaft voll mitgetragen wurde.

Strategische Kommunikation ist alles

An dieser Stelle kommt ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor für eine gelingende Restrukturierung ins Spiel: die Kommunikation gegenüber Anteilseignern, Investoren und nicht zuletzt der Belegschaft. Ganz gleich, ob es um Sparmaßnahmen, Personalabbau oder Standortschließungen geht: Restrukturierungen brauchen strategische Kommunikation, die alle Maßnahmen intern wie extern flankiert. Strategisch bedeutet in diesem Zusammenhang, dass gerade in Krisenlagen jede operative Entscheidung ganz von selbst eine mächtige kommunikative Wirkung entfaltet – es wird darüber geredet. Es reicht nicht, sich auf die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen wie Liquidität, Deckungsbeitrag oder Personalschlüssel zu konzentrieren, wie die klassischen Restrukturierungsmodelle es lehren. Diese Kennzahlen sind natürlich notwendig, aber eben nicht ausreichend. Zum entscheidenden Faktor wird die Außenperspektive, die Frage also, wie getroffene Entscheidungen auf die Beteiligten wirken und welche Reaktionen sie vermutlich auslösen werden: innerhalb der Organisation bei der Belegschaft und außerhalb bei den unterschiedlichen Stakeholdern. Das lässt sich antizipieren und durch geeignete Kommunikationsmaßnahmen positiv beeinflussen, wie der Fall Osram gezeigt hat.

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Carsten Seebass

Redaktion DATEV magazin

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