Abschied - 27. Mai 2021

„Öffnen Sie sich!“

Eckhard Schwarzer, Chief Markets Officer und stellvertretender Vorstandsvorsitzender, verlässt nach über 35 Jahren – 13 davon als Vorstand – die Genossenschaft. Im Interview blickt er nicht nur zurück, sondern auch in die Zukunft des Berufsstands.

Herr Schwarzer, Ehepaare feiern nach 35 Jahren „Leinenhochzeit“ und lassen sich auf einer Leinwand malerisch verewigen. Wie sieht Ihr Bild „Ehe mit DATEV“ aus?

ECKHARD SCHWARZER: Es ist das Bild einer homogenen und sehr lebendigen Stadt mit all ihren Möglichkeiten. Eine Stadt, in der viele Kulturen existieren, in der das Leben pulsiert, in der produziert und verkauft wird, in der sich ständig etwas Neues ergibt, in der sich Menschen austauschen und einander vertrauen. Es ist aber eine Stadtkultur, die sich weiterentwickelt und ständig modernisiert. Und die Besucher dieser Stadt bewundern die Modernität und Fortschrittlichkeit, die man ihr von außen gar nicht zutraut.

Gehen wir ein paar Jahre zurück in eine Zeit, in der Sie schon eine Weile in dieser Stadt wohnen. Sie wurden nur drei Jahre nach Ihrem Eintritt Abteilungsleiter, waren damals sogar der jüngste in der DATEV überhaupt. Würden Sie sich als Karrieremenschen bezeichnen?

Ein Karrieremensch war ich schon immer, das ist richtig. An meinem ersten Arbeitstag bei DATEV fragte mich mein damaliger Chef, wie lange ich wohl brauchen würde, um Abteilungsleiter zu werden. Ich antwortete, dass ich ja nicht wüsste, wie das bei DATEV läuft. Da sagte er wörtlich: Herr Schwarzer, alle drei Jahre müssen Sie einen Schritt machen – entweder nach oben oder zur Seite. Das verankerte sich in meinem Kopf und in der Tat hatte ich nach drei Jahren die Möglichkeit, mich auf eine Abteilungsleiterstelle zu bewerben.

Mitte der 1990er-Jahre leiteten Sie Ihr erstes strategisches Projekt. Stichwort DATEV-Preissystem.

Ursprünglich war die Software mit einem Einmalpreis versehen worden. Ein Einkommensteuerprogramm kostete beispielsweise 900 DM. Immer, wenn die Software ausgeliefert wurde, hatten wir einen gewaltigen Liquiditäts-Peak. Unterjährig hingegen sah es eher mau aus. Wir mussten zudem jedes Release immer wieder neu verkaufen. Gleichzeitig wussten wir damals schon, dass die Rechenzentrumsumsätze am langen Ende zurückgehen werden, weil sich der Trend zum PC immer mehr beschleunigte. Ein völlig neues Preis- und Lizenzmodell war die Folge. Fast das gesamte Haus war davon berührt. Wir stellten auf eine degressive monatliche Bepreisung um, legten als Lizenz- und Berechnungsgrundlage die Betriebsstätte sowie den PC fest, inkludierten in die monatliche Bepreisung sämtliche Releases und führten parallel dazu einen Mengenrabatt für die Nutzung des RZs ein, den RZ-Bonus. Das Konzept war damals für die Software-Industrie revolutionär. Viele Jahre sind wir darum beneidet worden, weil es uns gelungen ist, die Software in ein transparentes Lizenzmodell zu überführen, das die Größenunterschiede der Kanzleien berücksichtigt, laufenden Liquiditätszufluss sicherstellt und unsere Umsätze zukunftssicher machte.

Auf welches Projekt blicken Sie außerdem mit Stolz zurück?

Ich habe 1998/99 den Service übernommen. Damals hatten wir im Lohn eine durchschnittliche Erreichbarkeit von zwei Prozent. Das war bodenlos. Durch verschiedene Maßnahmen wie ein Managemententwicklungsprogramm für alle Führungskräfte, die Einführung der Info-Datenbank und die Verlängerung der Servicezeiten von 16:30 Uhr auf 18 Uhr haben wir einiges abfedern können. Der entscheidende Punkt war aber die Einführung der allgemeinen Service-Bepreisung auf 9 Euro pro Anruf. Das hat schlagartig gewirkt, von einem Tag auf den anderen waren wir wieder optimal erreichbar. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung mache ich mir natürlich Gedanken, ob wir jeden Monat Tausende Neuanwender allein im Unternehmensmarkt herkömmlich am Telefon bedienen wollen. Das kann zu ernsthaften Problemen führen. Man muss deshalb erneut über den Preis und über weitere alternative Service-Medien nachdenken. Die erforderlichen Maßnahmen wurden in den vergangenen Jahren auf Basis der aktuellen Servicestrategie schon eingeleitet.

Ein wichtiges Projekt war sicher auch die Satzungsänderung 2018. Sie gelten als einer der Urheber. Wie blicken Sie heute auf dieses Projekt?

Die Satzungsänderung 2018 war ohne Zweifel eines meiner größten und gleichzeitig wichtigsten Projekte für DATEV. Denn auch hier ging es um die Zukunft unserer Genossenschaft. Ich muss gestehen: In der heißen Phase hat mich das Thema die ein oder andere schlaflose Nacht gekostet – auch weil ich über ein Jahr lang praktisch durch die gesamte Republik gereist bin, um den persönlichen Austausch mit unseren Mitgliedern zu suchen. Aber das hat sich ohne Zweifel gelohnt, davon bin ich überzeugt. Anlass zur Satzungsänderung war beziehungsweise ist das disruptive Potenzial von Online-Plattformen, das auch vor den beratenden Berufen nicht Halt macht. Wichtig ist mir hierbei stets zu betonen, dass unsere Mitglieder und deren Förderung ganz klar im Fokus der Genossenschaft DATEV stehen. Und genau deshalb mussten wir aktiv werden und die Satzung für derartige Geschäftsmodelle öffnen. Wenn wir uns diesen disruptiven Modellen nicht widmen, dann werden es andere tun. Dann aber nicht für, sondern gegen den Berufsstand. Egal ob Mandantenanbahnung, digitale Zusammenarbeit oder Online-Plattformen für Dritte, DATEV-Mitglieder müssen auch in einer Plattformökonomie Dreh- und Angelpunkt betriebswirtschaftlicher Prozesse sein. Und dies gelingt uns am besten mit einer genossenschaftlichen Plattformstrategie.

Haben Sie in Ihrer Karriere auch Fehlentscheidungen getroffen und wie sind Sie damit umgegangen?

Mir fällt jetzt ehrlich gesagt kein konkretes Beispiel einer Fehlentscheidung ein. Es gibt aber bestimmt welche. Ich hatte lange Jahre hinter meinem Schreibtisch ein Schild hängen, auf dem stand: „Lieber um Vergebung bitten als um Erlaubnis fragen.“ Wenn ich vor einer Entscheidung immer alles tue, um mich mit Hilfe von Gutachten zahlloser externer Institute, Juristen oder Berater abzusichern und ich jeden im Haus dreimal frage, ob das auch in Ordnung geht, dann verliere ich nicht nur viel Zeit, ich verliere wahrscheinlich auch das Momentum und die Impulskraft für unternehmerische Entscheidungen. Meine Überzeugung lautet: Man muss entscheiden und für sein Tun die Verantwortung übernehmen. Und wenn es schiefgeht, muss man sich genau überlegen, woran es gelegen haben könnte, ohne abzustrafen – Rückgrat beweisen und im Zweifelsfall um Entschuldigung bitten.

Scheitern hängt auch mit Mut zusammen. Sind wir bei DATEV mutig genug?

In unseren Technologiesprüngen sind wir teilweise sehr mutig. Auf der anderen Seite sind wir im Einzelfall manchmal zu langsam, weil wir Verfahren im Detail verproben wollen. Durch unser Organisationsprojekt ´Fit für die Zukunft´ konnten wir in vielen Bereichen enorm Geschwindigkeit aufnehmen, gerade was die Entwicklung angeht. In der letzten Vertreterratssitzung 2020 hat unser CTO Peter Krug das Ist und Soll der Produktplanung für das nächste Jahr vorgestellt. Da kamen von den Vertretern Beifallsstürme, weil sie die Fortschritte so nicht erwartet hatten. Es gibt aber auch Bereiche, da mache ich keinen Hehl daraus, in denen wir unnötig Bürokratie erzeugen und dadurch ausgebremst werden. Ich habe bei der Einführung von ´Fit für die Zukunft´ auf einer Führungskräfteveranstaltung betont, dass wir uns ein paar Jahre Zeit geben müssen, um Ecken und Kanten der neuen Organisation abzuschleifen. Wenn ich merke, an einer Stelle entwickelt sich ein Bürokratiemonster, muss ich genau dort ansetzen und nachjustieren. Das heißt aber auch, ich muss den Mut haben, in begründeten Fällen, getroffene Entscheidungen zu revidieren.

Für wie mutig erachten Sie denn den Berufsstand?

Ich glaube, der Berufsstand ist auch in vielen Bereichen mutig! Man muss hier aber differenzieren: Fakt ist, dass man zwischen dem institutionalisierten, sprich organisierten Berufsstand und den Berufsangehörigen, wie wir sie als Kunden erleben, unterscheiden muss. Im organisierten Berufsstand spielt die Politik eine große Rolle. An manchen Stellen könnte man etwas forscher und mutiger gegenüber den politischen Entscheidern im Bund und in Europa, aber auch gegenüber den eigenen Mitgliedern sein. Auf der anderen Seite steckt hier ein gewaltiges Maß an Verantwortung dahinter, weil der organsierte Berufsstand über 80.000 Berufsangehörige vertritt. Auf der Kundenseite müssen wir seit vielen Jahren einen Spagat bewältigen. Wir haben die berühmten 17 bis 25 Prozent First Mover, die wirklich mutig sind, voranmarschieren, Neues ausprobieren. Wir haben aber gleichzeitig auch 30 bis 40 Prozent, die glücklich mit ihrem Pendelordner sind und keine Veränderung wünschen. Die unterschiedlichen Bedürfnisse beider Lager müssen wir leider bei vielen Themenstellungen berücksichtigen.

2008 haben Sie das Vorstandsamt übernommen. Bei der damaligen Staffelübergabe von Siegbert Rudolph haben Sie ein gemeinsames Interview in diesem Magazin gegeben. Wir konfrontieren Sie mit drei Aussagen daraus. So prophezeiten Sie: „Eine wesentliche Herausforderung wird sein, unseren Mitgliedern Wege zu zeigen, wie sie neue Mandanten gewinnen und bestehende Mandate an sich binden können“. Inwieweit ist dieses Vorhaben geglückt?

Ich war im vergangenen Jahr auf einer Veranstaltung unserer italienischen Partnerfirma und habe festgestellt, dass bei vielen der geladenen Berufsangehörigen noch exakt das Bild existiert, das wir bis Mitte der 2000er Jahre hatten. Die DATEV stellt dem Mitglied ihre Software und Dienstleistung zur Verfügung. Das Mitglied wiederum gibt es an die Mandanten weiter. Meine These lautete, dass wir uns als DATEV nicht über, sondern neben Mitglied und Mandant stellen müssen, um sehen zu können, wie Steuerberater und Mandant zusammenarbeiten. Nur so können wir erfahren, wie die Prozesse zwischen den beiden ablaufen. Es war zwingend erforderlich, den Blickwinkel weg von oben und hin zur Seite zu richten. Aus diesem Blickwinkel heraus konnten wir Dienstleistungen entwickeln, die dem Unternehmer ermöglichen, mit seinem Steuerberater mit Freude zusammenzuarbeiten, und dem Steuerberater Werkzeuge an die Hand geben, mit denen er seine Mandanten an sich binden kann. Aus heutiger Sicht bin ich schon ein bisschen stolz darauf, dass es mir gelungen ist, diesen Paradigmenwechsel mit einzuleiten.

Eine weitere Aussage von Ihnen bezog sich auf den Unternehmensmarkt: „Ich glaube, es wird für unsere Mitglieder zunehmend wichtig werden, sich noch stärker ihren Mandanten zu öffnen, vor allem bei der Softwareunterstützung.“ Den Satz könnten Sie heute exakt genauso wiederholen, oder?

Wir gehen jetzt sogar noch weiter. Wir müssen die vor- und nachgelagerten Unternehmensprozesse betrachten. Wir können und wollen diese aber nicht selbst bedienen, weshalb wir den Marktplatz bereitstellen und Kooperationen mit Softwareanbietern eingehen, die mit ihren Lösungen die vor- und nachgelagerten Prozesse der Unternehmen unterstützen. Dabei kann es sich zum Beispiel um eine Zeiterfassungstool, ein CRM- oder ein weiteres Controllingsystem für unterschiedliche Branchen handeln. Die Grundidee war: Eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Zusammenarbeit zwischen Berater und Mandant.

Sie haben vorhin schon fast das Ökosystem beschrieben, das Sie 2008 vorgedacht haben. Ist es eine weitere Herausforderung unseren Mitgliedern zu vermitteln, dass wir künftig stärker mit Partnern zusammenarbeiten wollen?

Wir hatten das Ökosystem in dem jetzigen Umfang nicht vorgedacht. Uns war eines wichtig: Vor- und nachgelagerte Prozesse zu erkennen und digital miteinander zu verknüpfen. Vorreiter war die Personalwirtschaft. Hier haben wir schon frühzeitig mit Zeiterfassungssoftware-Anbietern zusammengearbeitet, auch was das Thema nachgelagerte Bearbeitung anbelangt. Wir waren also schon vor meiner Amtszeit im Vorstand in diese Richtung aktiv. Mit dem Terminus Ökosystem hat bis dato aber niemand gearbeitet.

Ein langer Atem zahlt sich also aus. Doch nach außen wirkt es oft so, als wäre DATEV träge und langsam.

Wir glauben immer, wir wären zu langsam und neigen dazu, unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Ich habe durch meine Tätigkeit in verschiedenen mittelständischen Wirtschaftsverbänden viele Unternehmen kennengelernt, die immer erstaunt sind, wie weit und fortschrittlich DATEV ist. Wir sind in vielen Themen Vorreiter. Trotzdem kostet die Umsetzung der Themen auch seine Zeit. Man darf schließlich nicht vergessen, dass wir mittlerweile über 400.000 Kunden haben, im Monat über 13 Millionen Gehälter und Löhne verarbeiten sowie rund 2,5 Millionen Finanzbuchhaltungen im RZ speichern. Wir tragen eine volkswirtschaftliche Verantwortung. Das lässt sich nicht mit einem Start-up vergleichen, das auf der grünen Wiese agiert, auf Veränderungen sehr agil reagieren kann und möglicherweise noch von zahlungskräftigen Investoren unterstützt wird. Mit steigender Anzahl an Kunden nimmt auch die Flexibilität der Start-ups ab, da die Kunden richtig, sorgfältig und verantwortungsbewusst bedient werden müssen.

Ist DATEV also nicht selbstbewusst genug?

Ja, das kann durchaus sein. Wir haben früher nie groß mit unseren Leistungen geworben. Wir sind nie an die Öffentlichkeit gegangen und haben uns selbst auf die Schulter geklopft. Heute hat sich das zum Glück gewandelt. Ich kann mich gut erinnern, dass es zu Zeiten von DATEV-Gründungsvater Dr. Sebiger völlig unmöglich gewesen wäre, auf Kongressen aufzutreten und unsere Erfahrungen, Lösungen und Erfolge nach außen zu tragen. Das war ein No-Go. Als ich damals mein Vorstellungsgespräch hatte, gab es über dem Haupteingang noch nicht mal ein Logo, sondern nur eine Hausnummer und eine Klingel.

Zurück zu besagtem Interview. Eine dritte Aussage lautete: „Ich glaube, dass wir mit dem Schritt, uns Europa zu öffnen und Märkte in anderen Ländern zu erschließen, die richtige Richtung eingeschlagen haben.“ Das Corona-Jahr 2020 hat das Auslandsgeschäft mit einem Rekordergebnis bewältigt. War dieser Schritt also auch aus der Retrospektive richtig?

Ja, davon bin ich überzeugt. Über viele Jahre war das Auslandsgeschäft eine schwierige Durststrecke mit Rückschlägen und Widerständen. Heute verdienen wir gutes Geld mit dem Auslandsmarkt. Und auch die Perspektive ist gut, denn in vielen europäischen Ländern laufen Gesetzesinitiativen, die in dieselbe Richtung zeigen wie zuletzt in Italien, wo wir einen Großteil unseres Umsatzplus mit der elektronischen Verarbeitung von Rechnungsdaten einfahren konnten. Was für unsere Mitglieder relevant ist: Von diesem Verfahren sind natürlich auch deutsche Unternehmen tangiert, die in diesen Ländern investiert haben, und Unternehmen aus diesen Ländern, die in Deutschland investiert haben. Wir haben bereits vor etlichen Jahren grenzüberschreitende Datenaustauschmodelle angeboten, auch mit englischsprachigen Oberflächen, die uns jetzt sehr nützlich sind.

Die Corona-Krise hat auch Grenzen von Globalisierung und Internationalisierung aufgezeigt. Denken Sie, dass dieses Thema für den Berufsstand in Deutschland dennoch weiter an Bedeutung gewinnen wird?

Mit Sicherheit, vor allem innerhalb des Euro-Raums. Die Globalisierungsdebatte ist davon getrieben, dass plötzlich Lieferketten in sich zusammengebrochen sind, weil die Ursprungsprodukte zum Beispiel in Asien produziert werden und es dort durch den Lockdown zu Ausfällen kam. Es gibt Möbelketten, die Möbel ohne Ende verkaufen könnten, wenn sie nicht auf einzelne Komponenten angewiesen wären, die aus China, Vietnam oder Südkorea kommen und an irgendeiner Stelle der globalen Wertschöpfungskette hängengeblieben sind. Das wirft die Frage auf, ob es nicht zumindest ein paar Schlüsselindustrien gibt, die nicht außerhalb Europas angesiedelt werden sollten. Das ist aber eine politische Frage. Was unseren Berufsstand angeht: Ich halte es für absolut notwendig, sich mit den Entwicklungen zumindest im europäischen Ausland auseinanderzusetzen. Wenn ich einen Mandanten betreue, der in Polen ein Lager betreibt und Polen kurzfristig auf die elektronische Rechnungsstellung umstellt, wie es in Italien passiert ist, muss der Unternehmer diese Anforderung in seine Prozesse integrieren und abbilden können. Der Steuerberater muss in der Lage sein, diese Rechnungen ordnungsgemäß zu verbuchen. Darauf muss sich der Berufsstand einstellen, und ich glaube, da haben wir noch einiges vor uns.

Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie in den kommenden Jahren?

Ein äußerst schwieriges Thema wird sein, wie die EU-Kommission mit den Vorbehaltstätigkeiten umgeht. Seit 2019 läuft ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland, das wahrscheinlich beim Europäischen Gerichtshof landen wird. Die Gefahr ist groß, dass der EuGH zum Beispiel die Umsatzsteuervoranmeldung als Vorbehaltstätigkeit kippt. Es könnten für unsere Mitglieder völlig neue Wettbewerbssituationen entstehen. Darauf sollten wir uns und unsere Mitglieder heute bereits einstellen. Wir wissen beispielsweise aus Befragungen, dass Mandanten, die digital an ihre Kanzlei angebunden sind, eine ungleich höhere Austrittsschwelle zu einem vermeintlich günstigeren Anbieter haben als jene, die mit ihrer Kanzlei per Pendelordner verbunden sind. Unsere gesamte Anstrengung muss gemeinsam mit dem Berufsstand dahin gehen, die nächsten zwei, drei Jahre zu nutzen, möglichst viele Mandanten digital an die Kanzleien zu binden und den Pendelordner in den Schrank der Geschichte zu verbannen.

Jetzt aber weg vom Fachlichen. Mit welcher Gefühlslage blicken Sie auf Ihren nahenden Abschied?

Sagen wir mal so: Auf der einen Seite freue ich mich auf meine neuen Tätigkeiten, ich setze mich ja nicht in den Rentnersessel und trinke Rotwein. Auf der anderen Seite habe ich ein dickes weinendes Auge, wenn ich an die vielen Kolleginnen und Kollegen denke, die ich nicht mehr so regelmäßig sehen werde. Zudem ist es etwas traurig, dass es Corona-bedingt wahrscheinlich keine richtige Abschiedsfeier geben kann. Aber die holen wir nach, verlassen Sie sich drauf!

Bleiben Sie zumindest mit einem sentimentalen Zweitwohnsitz in dieser Stadt, die Sie eingangs beschrieben haben?

Einen gefühlten Zweitwohnsitz behalte ich in jedem Fall, 36 Jahre DATEV-Zugehörigkeit lassen sich nicht einfach abstreifen und das will ich auch gar nicht. Ich bin seit Ende 2019 Präsident des Mittelstandsverbunds ZGV, einem Bundesverband von Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften und Verbundgruppen wie Intersport, Edeka und auch DATEV. Das ist eine sehr spannende Aufgabe, die meinem politischen Naturell nahekommt. In diesem Kontext gibt es verschiedene andere Verbindungen, zum Beispiel als Vizepräsident des Deutschen Raiffeisen- und Genossenschaftsverbandes. Außerdem bin ich als Mandant über Unternehmen online an die Kanzlei unserer Steuerberaterin angebunden – da bleibe ich meiner DATEV garantiert als konstruktiv-kritischer Anwender erhalten!

Wenn wir uns in eine Corona-freie Zeit und auf den Marktplatz der anfangs skizzierten Stadt träumen, auf dem sich alle DATEV-Mitglieder versammeln. Welche Botschaft würden Sie ihnen mitgeben?

Der Kern wäre die Aufforderung, sich den digitalen Möglichkeiten zu öffnen, völlig unabhängig von dem, was heute vielleicht als „gängige Praxis“ bezeichnet wird. Öffnen Sie sich in einer Art und Weise, dass es den Mandanten Spaß macht, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Spaß, weil der Unternehmer Geld spart, weil er gut beraten wird und weil er selbst einfacher und vor allem compliant arbeiten kann. Und als zweite Botschaft: Nutzen Sie die vielen Möglichkeiten von DATEV selbst oder die Angebote am Marktplatz, um Ihren Mandanten Dienstleistungen anzubieten, die Sie selbst nicht anbieten wollen oder dürfen – bis hin zu all den Themen, die der Gesetzgeber einem Unternehmen aufbürdet. Und vor allem – sprechen Sie mit Ihren Mandanten über deren Geschäftsmodelle und Geschäftsprozesse. Gibt es digitale Alternativen, die das Geschäftsmodell gefährden oder die Geschäftsprozesse vereinfachen können? Wenn dem so ist, wissen Sie, was zu tun ist.

Wenn ich dieses Bild vermitteln könnte, der Steuerberater als Compliance-Instanz und externer CFO seiner Mandanten – mit seiner eigenen IT-Genossenschaft im Hintergrund, die all das bedient, was er selbst nicht kann oder darf, würde ich mich sehr freuen. Denn das ist für mich das Bild der Zukunft.

Zu den Autoren

Birgit Schnee

Redaktion DATEV magazin

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