Ethik und Moral im Berufsstand - 29. April 2021

Die Empörung ist groß

Bilanzskandale wie FlowTex und WorldCom in der Vergangenheit sowie Wirecard und Carillion in der Gegenwart haben zu zahlreichen Stellungnahmen über die ethische Verantwortung von Managerinnen und Managern einerseits sowie den Wirtschaftsprüferinnen und Wirtschaftsprüfern andererseits geführt. Beklagt wird eine mangelnde Moral.

Bilanzskandale werden grundsätzlich immer auch als ethische Skandale betrachtet. Bemerkenswert dabei ist, dass bei aller Kritik am Berufsstand der Wirtschaftsprüfer in den seltensten Fällen technische oder fachliche Inkompetenz der Abschlussprüfer als ursächliches Problem bemängelt beziehungsweise festgestellt wird. Vielmehr wird die moralische Basis des Berufsstands fundamental infrage gestellt. Neben der technischen Urteilskompetenz soll sich ein Prüfer auch integer und objektiv verhalten.

Ethische Kodifizierungen

Integrität ist definiert im Code of Ethics der International Federation of Accountants (IFAC 2007), wonach ein Prüfer in Geschäftsbeziehungen offen und ehrlich sein soll [Section 100.4 (a) und Section 110]. Objektivität bedeutet, dass ein Wirtschaftsprüfer sein Urteil unvoreingenommen, frei von Interessenkonflikten oder unangemessenen Einflüssen von anderen abgeben soll [IFAC Code of Ethics 100.4 (b) und Section 120]. Integrität und Objektivität können als zentrale ethische Grundlagen des Berufsstands angesehen werden, die hier im Kontext von Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung zur Anwendung kommen. Im Falle von Konflikten ist ein Wirtschaftsprüfer unter anderem verpflichtet, auch die ethischen Aspekte ins Kalkül zu ziehen [IFAC Code of Ethics 100.17 (b)]. In Bezug auf sogenannte Assurance-Aufträge, bei denen eine dritte Partei, etwa Gesellschafter oder Gläubiger, auf die Richtigkeit des Urteils des Prüfers vertrauten, gilt der IFAC Code of Ethics 280.2. Independence of Mind als innerer Zustand wird im IFAC Code of Ethics 290.8 definiert. Ein Prüfer, der die moralische Norm von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit beachtet, ist in diesem Sinne unabhängig. Im gleichen Code ist die Independence in Appearance definiert, die auf eine Vermeidung von Umständen abzielt, wonach ein unabhängiger Dritter die Integrität und Objektivität der Prüfung als gefährdet ansehen würde. Die Unabhängigkeit dem Anschein nach kann selbst dann beeinträchtigt sein, wenn der Prüfer tatsächlich unabhängig sowie eine moralisch in höchstem Maße integre Person ist. Ein unparteilicher Dritter würde jedoch regelmäßig erwarten, dass die Versuchung, eine moralische Norm zu brechen, so groß ist, dass ein durchschnittlicher Mensch dieser Versuchung nicht widerstehen kann. Diese Ansicht basiert auf der implizierten Theorie des normalen Verhaltens. Da in der Regel die tatsächliche Unabhängigkeit als innerer mentaler Zustand kaum beobachtbar ist, ist die Unabhängigkeit dem Anschein nach besser durch Dritte nachprüfbar.

Verlust der ethischen Grundlagen

Infolge der Bilanzskandale kritisierten viele Autoren den Verlust eines starken ethischen Fundaments im Berufsstand der Wirtschaftsprüfer. Duska argumentiert, dass Abschlussprüfer und Prüfungsgesellschaften zu reinen „accumulators of wealth for its own sake“ wurden und ihre primäre ethische Verantwortung in Bezug auf das öffentliche Interesse vergessen haben (2005). Wyatt – ein früheres Mitglied des Financial Accounting Standards Board (FASB) – ist der Ansicht, dass die Gier zur treibenden Kraft innerhalb der Prüfungsgesellschaften wurde, ebenso wie in anderen Unternehmen (2004). Nach einer langen Diskussion rechtlicher und speziell berufsrechtlicher Regelungen bringen Ballwieser und Clemm das Argument, dass primär eine starke ethische Einstellung benötigt wird, deren Durchsetzung durch berufsrechtliche Vorschriften nützlich, dennoch aber nur sekundär ist. Ohne Ethik „ist Prüfung nicht durchführbar und somit unverantwortlich“ (Ballwieser/Clemm 1999, 414). Weitere Autoren argumentieren in dieselbe Richtung und fordern in einer normativen Weise mehr ethisches Verhalten vom Prüfer sowohl als Einzelprüfer als auch innerhalb von Prüfungsgesellschaften (Satava et al. 2006; Waddock 2005). Wenn aber einer ethischen Einstellung der Vorrang gebührt, dann muss die Frage beantwortet werden, wie diese Disposition mit dem rationalen Selbstinteresse des Prüfers zu vereinbaren ist oder wie man bei ethischen Konflikten verfahren sollte (Boyd 2004). Die zitierten Autoren schweigen zu dieser Frage. Einige bevorzugen eine ethische Erziehung in der Lehre über Rechnungslegung oder Prüfung an der Universität sowie in den Prüfungsfirmen (Melé 2005).

Eigeninteresse der Berufsträger

Das International Accounting Education Standards Board (IAESB) der IFAC fördert dieses Anliegen. Der International Education Standard (IES) for Professional Accountants (IES 4) trägt den Titel Professional Values, Ethics and Attitudes und fordert ein Lehren von professionellen Werten, Ethik und Einstellungen für den Berufsstand, insbesondere beim Eintritt in den Beruf. Daneben wird eine quasi lebenslange Fort- und Weiterbildung für Wirtschaftsprüfer auch nach Ablegen des Berufsexamens erwartet und auch gefördert. Die Ethik hat in diesem Zusammenhang daher die Aufgabe, die Identität einer Profession zu charakterisieren. Sie schließt ethische Prinzipien der Berufsausübung explizit mit ein, die wesentlich für ein berufswürdiges Verhalten sind (IFAC Education Committee 2003, S. 23). Die zentrale Frage lautet hier, warum ein rational handelnder Wirtschaftsprüfer die moralische Norm eines Code of Ethics überhaupt beachten sollte? Es geht hier also nicht primär um berufsrechtliche Vorschriften. Deren Überschreitung führt ja in jedem Fall zu juristischen Sanktionen. Ein derartiger Ethikkodex für Wirtschaftsprüfer sollte so gestaltet sein, dass ein rationaler Prüfer den Kodex ohne Zwang akzeptiert und ihn auch befolgt. Die Beachtung moralischer Normen liegt nämlich im langfristigen Eigeninteresse eines jeden Wirtschaftsprüfers. Es geht dabei wie gesagt nicht um Situationen, in denen rechtliche Regeln und die damit verbundenen Sanktionen so streng sind, dass ein rationaler Prüfer die Vorschriften in jedem Fall befolgen würde. Vielmehr geht es um Szenarien, die genügend Spielraum für amoralische Entscheidungen bieten, etwa die Erteilung eines uneingeschränkten Bestätigungsvermerks bei vagen Rechnungslegungsstandards, wobei das Management nach der tatsächlichen Überzeugung des Prüfers eine irreführende Alternative gewählt habe. Ein rationaler Prüfer wird hier immer davon überzeugt sein, dass die Beachtung moralischer Normen seinem langfristigen Eigeninteresse dient. So gesehen sind moralische Normen auch begründet. Sie sind das Ergebnis bewusster vertraglicher Vereinbarungen rational handelnder Menschen. Insoweit liegt hier auch eine Selbstbindung des Berufsstands vor.

Vertrauensverluste vermeiden

Der Wirtschaftsprüfer als Institution ist auf das Vertrauen der Öffentlichkeit angewiesen. Ohne dieses Vertrauen wäre der Prüfer und sein Produkt, nämlich der Prüfungsbericht beziehungsweise das Prüfungstestat, unglaubwürdig. Insoweit ist der einzelne Prüfer auch abhängig vom Verhalten der anderen Kollegen seines Berufsstands. Prüfungen sind daher mehr als alles andere Vertrauensgüter. So gesehen gibt es neben individuellen Anreizen, die eine überdurchschnittliche Qualität signalisieren, auch Anreize für Regeln sowie die gegenseitige Überwachung im gesamten Berufsstand. Zu beachten ist hierbei allerdings der Konflikt zwischen individuellen und kollektiven Interessen. Dieser Konflikt ergibt sich, weil die Einnahmen für normabweichendes Verhalten für den einzelnen Wirtschaftsprüfer höher sind, als wenn er die Normen beachten würde – unabhängig davon, was die anderen Mitglieder seines Berufsstands tun. Der einzelne Wirtschaftsprüfer könnte also kurzfristige Mehreinnahmen erzielen, aber alle Kollegen seines Berufsstands würden im Falle der allgemeinen Nichtbeachtung von Normen niedrigere Einnahmen erzielen, als wenn generell alle einschlägigen Normen befolgt werden. Dies würde sich dann langfristig in sinkenden Prüfungsgebühren am Markt widerspiegeln, wovon alle Berufsträger, gleich ob Einzelprüfer oder Prüfungsgesellschaft, betroffen wären.

Kontrollmechanismen

Schließlich stellt sich die Frage, wie die Einhaltung von Normen eines Code of Ethics für Wirtschaftsprüfer gewährleistet werden kann. Der deutsche Berufsstand besteht aus über 14.000 Berufsträgern. Der britische Berufsstand der Chartered Accountants hat weit über 100.000 Mitglieder. Der marginale Ertrag eines einzelnen Wirtschaftsprüfers aus Beiträgen zum öffentlichen Gut eines angesehenen Berufsstands ist daher im Grunde zu vernachlässigen. Der Ertrag ist nicht eindeutig monetär bewertbar und zudem auch unsicher. Die Nichtbefolgung ethischer Normen des Berufsstands dürfte somit schlussendlich unentdeckt bleiben. Um dem entgegenzuwirken, verfügt der Berufsstand jedoch über ein gesetzlich verankertes, institutionalisiertes System des Mutual Monitoring, die sogenannte Qualitätskontrolle durch andere Berufsangehörige, den sogenannten Peer Review, in Deutschland geregelt in §§ 57a ff. der Wirtschaftsprüferordnung (WPO). Die Teilnahme an diesem System ist die Voraussetzung für die Durchführung gesetzlich vorgeschriebener Abschlussprüfungen. Die Qualitätskontrolle dient der Überwachung, ob Regelungen zur Qualitätssicherung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften sowie der Berufssatzung insgesamt und bei der Durchführung einzelner Aufträge eingehalten werden. In Deutschland ist dies in § 57a Abs. 1 WPO geregelt. Hierbei festgestellte Verfehlungen, die möglicherweise für die Berufsaufsicht und die Berufsgerichtsbarkeit relevant sind, dürfen in Deutschland jedoch nicht in derartigen Verfahren verwendet werden (§ 57e Abs. 4, 5 WPO). Hier bestünde grundsätzlich eine Sanktionsmöglichkeit. Diese wird jedoch ganz offensichtlich nicht genutzt. Zudem sind die Prüfer für Qualitätskontrolle sowie die Qualitätskontrollkommission zur Verschwiegenheit verpflichtet, sodass auch die Mechanismen der informellen Sanktionierung über eine Informationsweitergabe im Berufsstand nicht greifen (§ 57b WPO). Heikel und schwierig ist auch die Beantwortung der Frage, inwieweit moralische Gefühle, wie etwa Schuld und Scham, im Prüfungskontext bei Abweichungen vom Ethikkodex eine Rolle spielen. Insbesondere gilt das für die Prüfung von Jahresabschlüssen kapitalmarktorientierter Unternehmen. Sofern der Wirtschaftsprüfer hier Mitglied einer großen Prüfungsgesellschaft ist, kann eine Delegation von Verantwortung auf die Prüfungsgesellschaft die Folge sein. Dem steht die individuelle Verantwortung des Prüfers entgegen, wie sie in Deutschland in der WPO definiert ist. Ebenso gibt es keine empirische Untersuchung für die Bestrafung von Prüfern über einen sozialen Druck. Grundsätzlich wurden in Deutschland berufsrechtliche Verfehlungen von Wirtschaftsprüfern in der Vergangenheit nur in anonymisierter Form bekannt gemacht. Nun ist nach § 99 Abs. 1 WPO die Hauptverhandlung zumindest immer dann öffentlich, wenn die vorgeworfene Pflichtverletzung im Zusammenhang mit der Durchführung einer Prüfung nach § 316 Handelsgesetzbuch (HGB) steht.

Berufsaufsichtsreformgesetz

Insgesamt gesehen scheint man in Deutschland bei der Überwachung des Berufsstands auf den Weg der staatlichen, autoritativen Instanz zu setzen, die mit Ermittlungs- und Sanktionsbefugnissen ausgestattet ist. So wurden mit dem Berufsaufsichtsreformgesetz von September 2007 die Befugnisse der Wirtschaftsprüferkammer (WPK) deutlich erweitert. Die WPK ermittelt, soweit konkrete Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen Berufspflichten vorliegen sowie bei Berufsangehörigen und Wirtschaftsprüfergesellschaften, die gesetzlich vorgeschriebene Abschlussprüfungen bei Unternehmen von öffentlichem Interesse nach § 319a Abs. 1 S. 1 HGB durchführen, stichprobenartig ohne besonderen Anlass (§§ 61a Abs. 1, 62b WPO). Soweit es um gesetzlich vorgeschriebene Abschlussprüfungen geht, kann ein betroffener Wirtschaftsprüfer sich nun nicht mehr auf seine Verschwiegenheitspflicht berufen.

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass ein rational handelnder Wirtschaftsprüfer die moralischen Normen des Code of Ethics beachtet, wie das von der Öffentlichkeit erwartet wird. Er tut dies nicht nur wegen drohender Sanktionen, sondern aus einer inneren Überzeugung heraus. Die Betrachtung der moralischen Kraft des Code of Ethics in Deutschland führt dabei zu der Einschätzung, dass die Wirksamkeit fundamentaler Prinzipien des Berufsstands überwiegend abhängig von juristischen Sanktionen ist, da moralische Sanktionen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Auf der Ebene einer Prüfungsgesellschaft ist dies aber unter Umständen anders zu beurteilen. Dort ist grundsätzlich eine ethische Unternehmenskultur möglich, die aber von der Bereitschaft der führenden Personen abhängt.

Zum Autor

HR
Hans-Peter Raible

Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sowie Chartered Accountant (UK) bei Rödl & Partner am Standort Birmingham (Vereinigtes Königreich)

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