Berufsstand - 1. Juni 2023

BGH: „Freie Mitarbeit“ in Kanzlei als Scheinselbstständigkeit

BRAK, Mitteilung vom 31.05.2023 zum Urteil des BGH 1 StR 188/22 vom 08.03.2022

Wann „freie Mitarbeiter“ in einer Kanzlei Scheinselbstständige sind und damit rechtlich als Angestellte gelten, hat der BGH in einem aktuellen Fall grundlegend geklärt. Der Kanzleiinhaber hat seiner Ansicht nach Sozialversicherungsbeiträge vorenthalten und sich damit strafbar gemacht.

Ob eine Rechtsanwältin oder ein Rechtsanwalt, die bzw. der in einer Kanzlei in „freier Mitarbeit“ tätig ist, selbstständig tätig oder als scheinselbstständig – und damit rechtlich wie ein Angestellter – anzusehen ist, muss nach dem Gesamtbild der Arbeitsleistung beurteilt werden. Das hat der BGH in einem jüngst veröffentlichten Strafurteil klargestellt.

Der Entscheidung lag ein Fall zugrunde, in welchem ein Rechtsanwalt in seiner Kanzlei insgesamt zwölf Rechtanwältinnen und Rechtsanwälte in „freier Mitarbeit“ beschäftigte. In den Mitarbeiterverträgen war u. a. geregelt, dass diese ihre Sozialabgaben selbst abzuführen hatten und eigenes Personal beschäftigen durften. Die Anwältinnen und Anwälte waren ausschließlich für den Angeklagten tätig, der ihnen die zu bearbeitenden Mandate zuwies; sie arbeiteten nur in dessen Kanzleiräumen, nutzten dessen Kanzleipersonal und -infrastruktur und erhielten ein monatlich abzurufendes, nicht von ihrem Umsatz abhängiges Honorar.

Das Landgericht stufte die so gestaltete und gelebte Tätigkeit als abhängige und damit sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ein. Es hat den Angeklagten der Vorenthaltung und Veruntreuung von Sozialversicherungsbeiträgen und Arbeitsentgelt in 189 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr (zur Bewährung) sowie daneben u. a. zu einer Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen in Höhe von 200 Euro verurteilt. Seiner Strafzumessung legte es einen mittels des sog. Abtastverfahrens ermittelten Betrag von rund 118.000 Euro zugrunde, die der Angeklagte vorenthalten habe.

Auf die Revision des Angeklagten bestätigte der BGH den Schuldspruch und damit die Einordnung der Tätigkeit der zwölf Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als Scheinselbstständige. Den Rechtsfolgenausspruch hob der BGH jedoch auf, weil das Landgericht die Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge rechtsfehlerhaft ermittelt und damit den Schuldumfang falsch bestimmt habe. Auch die Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg und führte zur Aufhebung des Strafausspruchs. Denn es ist nicht auszuschließen, dass sich die fehlerhafte Ermittlung der Höhe der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge auch zugunsten des Angeklagten ausgewirkt haben kann.

Den Schuldspruch des Landgerichts wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a I und II Nr. 2 StGB) hält der BGH für zutreffend. Er stellt dabei auf die sozialversicherungs- und arbeitsrechtliche Einordnung ab, ob jemand selbstständig oder abhängig beschäftig ist. Primär komme es darauf an, ob die betreffende Person in den Betrieb eingegliedert sei und dabei einem Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht unterliege.

Wegen der Eigenart der anwaltlichen Tätigkeit als Dienstleistung höherer Art– sachliche Weisungsfreiheit einerseits und Einbindung in bestimmte Sachzwänge hinsichtlich des Arbeitsablaufs andererseits– seien diese Kriterien jedoch nicht in allen Fällen trennscharf. Für maßgeblich hält der BGH deshalb, ob die betreffende Person ein eigenes unternehmerisches Risiko übernimmt, d.h. ob ihre Tätigkeit mit einem Verlustrisiko behaftet sei und die Vergütung damit faktisch einer Gewinnbeteiligung gleichkomme, oder ob die Vergütung lediglich als Gegenleistung für geschuldete Arbeitsleistung anzusehen sei.

Letzteres hat der BGH im entschiedenen Fall angenommen – denn die zwölf Rechtsanwältinnen erhielten eine monatlich abzurufende Vergütung, die nicht von den von ihnen erwirtschafteten Umsätzen abhing. Für maßgeblich hält der BGH dabei das Gesamtbild der gelebten Vertragsbeziehung, die den „freien Mitarbeitern“ hier kein unternehmerisches Risiko zuwies, keinen Raum für eine Tätigkeit auf eigene Rechnung ließ und sie zudem hinsichtlich der Anwesenheitszeiten, der zu bearbeitenden Mandate und der wahrzunehmenden Termine umfassend den Weisungen des Kanzleiinhabers unterwarf.

Quelle: BRAK, Nachrichten aus Berlin Ausgabe 11/2023